Metro 2034
Telefonleitung zur Serpuchowskaja war noch immer tot. Was dem Oberst ein sehr wichtiges, weil für die Bewohner der Metro seltenes Gefühl nahm: das Gefühl der Nähe zu anderen Menschen. Solange die Kommunikation funktionierte, solange die Karawanen regelmäßig unterwegs waren und die Reise bis zur Hanse weniger als einen Tag dauerte, war jeder der Bewohner frei zu gehen oder zu bleiben. Jeder wusste, dass nur fünf Tunnel weiter die eigentliche Metro begann, die Zivilisation - die Menschheit.
Ähnlich hatten sich früher wahrscheinlich die Polarforscher im arktischen Eis gefühlt, wenn sie sich -sei es aus wissenschaftlichem Interesse oder wegen der hohen Löhne - auf einen monatelangen Kampf gegen Kälte und Einsamkeit einließen. Sie waren Tausende von Kilometern vom Festland entfernt, und doch blieb es immer in ihrer Nähe, denn das Radio funktionierte, und einmal im Monat hörten sie das Dröhnen des Flugzeugs, wenn es wieder einige Kisten mit Dosenfleisch über ihnen abwarf.
Die Eisscholle jedoch, auf der sich die Sewastopolskaja befand, war losgebrochen, und mit jeder Stunde trieb sie weiter fort -in einen Eissturm, einen schwarzen Ozean, in Leere und Ungewissheit.
Das Warten zog sich hin, und die vage Sorge des Obersts wurde allmählich zu einer düsteren Gewissheit: Die drei Aufklärer, die er zur Serpuchowskaja geschickt hatte, würde er nicht wiedersehen. Nun noch drei weitere Kämpfer von den Außenposten abzuziehen, um sie ebenfalls dieser unbekannten Gefahr auszusetzen, war völlig ausgeschlossen.
Ihren sicheren Tod, der doch keinen Ausweg aus der Lage bot, konnte er sich einfach nicht leisten. Dennoch schien es ihm verfrüht, die hermetischen Tore herabzulassen, die Südtunnel zu schließen und einen großen Stoßtrupp zu bilden. Warum musste ausgerechnet er diese Entscheidung treffen? Eine Entscheidung, die in jedem Fall die falsche war. Der Kommandeur der Außenposten seufzte, öffnete die Tür leicht, sah sich hastig um und rief den Posten zu sich.
»Hast du eine Zigarette für mich? Das ist aber die allerletzte, das nächste Mal gib mir keine mehr, egal wie sehr ich dich darum bitte. Und sag es niemandem.«
Als Nadja, ein stämmiges, gesprächiges Tantchen mit löchrigem Daunenschal und verschmierter Schürze, den Topf mit Fleisch und Gemüse brachte, lebten die Wachleute auf. Kartoffeln, Gurken und Tomaten galten als absolute Delikatessen, und außer an der Sewastopolskaja boten höchstens noch einige Kabaks an der Ringlinie oder in der Polis Derartiges an. Das lag nicht nur an den komplexen Hydrokulturen, die zum Anbau der eingelagerten Samen notwendig waren, sondern auch daran, dass es sich kaum jemand in der Metro leisten konnte, kilowattweise Strom zu verpulvern, nur um die Speisekarte der Soldaten etwas aufzulockern.
Selbst die Stationsleitung bekam lediglich an Feiertagen Gemüse auf den Tisch, denn es wurde vor allem für die Kinder gezüchtet. Istomin hatte erst heftig mit den Köchen streiten müssen, um sie davon zu überzeugen, dass sie zu dem Schweinefleisch, das es an ungeraden Tagen immer gab, noch je hundert Gramm gekochte Kartoffeln und eine Tomate dazulegten - um die Moral zu heben.
Und tatsächlich: Als Nadja ihr Sturmgewehr etwas ungeschickt ablegte und den Topfdeckel anhob, glätteten sich die Falten auf den Gesichtern der Wachleute augenblicklich. Keiner von ihnen hätte jetzt noch über die vermisste Karawane oder die verschollene Aufklärertruppe reden wollen -es hätte ihnen nur den Appetit verdorben.
Ein etwas älterer Mann in einer Wattejacke mit schmalen Metro-Abzeichen rührte lächelnd die Kartoffeln in seiner Schüssel um und sagte: »Heute muss ich den ganzen Tag schon an die Komsomolskaja denken. Die würde ich gern mal wieder sehen. Diese Mosaiken!Die schönste Station in ganz Moskau, finde ich.«
»Ach, hör auf, Homer«, entgegnete ein unrasierter Dicker mit Ohrenklappenmütze. »Du hast da eben gelebt, klar, dass du sie immer noch magst. Aber was ist mit den Glasmalereien an der Nowoslobodskaja? Und den herrlichen Säulen und Deckenfresken an der Majakowskaja?«
»Mir hat die Ploschtschad Rewoljuzii immer gefallen«, gestand schüchtern ein ernster, nicht mehr ganz junger Mann, der als Scharfschütze eingeteilt war. »Ich weiß, es ist blöd, aber all diese finsteren Matrosen und Piloten, die Grenzsoldaten mit ihren Hunden . das fand ich schon als Kind so toll.«
»Also ich finde das gar nicht blöd«, pflichtete ihm Nadja bei, während sie die
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