Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
Auszug aus Philippa Murrays Tagebuch
Donnerstag, 11. 12. 2003
Man kann noch das Blut sehen, wenn man genau hinsieht. Ich muss die kaputte Scheibe endlich austauschen. Aber mir haben bisher die Nerven dazu gefehlt.
Seit Dienstag ist er nicht mehr nach Hause gekommen.
Ich habe in drei Tagen Geburtstag.
Kein guter Zeitpunkt, um sitzengelassen zu werden.
Die Arbeit lenkt mich ab. Ich bin den ganzen Tag unterwegs. Alle lassen ihre Klaviere und Flügel vor Weihnachten stimmen. Ich habe sogar den Auftrag für die Instrumente der Universität bekommen. Sehr kurzfristig, vermutlich, weil jemand abgesprungen ist. Kann mir egal sein.
Ich komme erst abends zum Nachdenken. Natürlich schlafe ich schlecht. Aber ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll. Ich habe alle Krankenhäuser abtelefoniert, sogar bis runter nach Newcastle. Ich habe bei der Polizei nachgefragt, ob bei ihnen ein Unfall gemeldet wurde. Heute war ich bei seinen Kollegen und habe nach ihm gefragt. Er ist seit zwei Tagen nicht zur Arbeit erschienen. Sie sagten, er hätte sich krankgemeldet. Ich habe daraufhin noch einmal alle Krankenhäuser in Edinburgh angerufen. Nichts.
Ich werde noch wahnsinnig.
Vorhin war Pete da und hat nach ihm gefragt. Normalerweise meldet sich Sean einmal in der Woche bei seinem Vater, mindestens. Als ich Pete sagen wollte, was los war, musste ich weinen. Zum ersten Mal, seit er weg ist, habe ich geweint, und es hat gutgetan.
»Ich glaube nicht, dass er dich verlassen hat«, sagte Pete. »Bestimmt gibt es eine ganz einfache Erklärung. Und wenn ihm was wirklich Schlimmes zugestoßen wäre, hätte man uns doch informiert.«
Das wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, um mit ihm darüber zu reden, was wirklich passiert war, aber ich schaffte es nicht. Stattdessen sagte ich nur: »Nein. Er ist einfach weg.«
Pete sagte mir, dass mich Sean viel zu sehr liebt, um mich zu verlassen, und irgendwie will ich ihm das auch glauben. Er ist jetzt bei der Polizei, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Ich habe mich nicht getraut, das zu tun. Schon als ich mich danach erkundigt habe, ob ein Sean Butler einen Unfall gehabt haben könnte, weil er nicht nach Hause gekommen ist, haben die Polizisten die Augenbrauen hochgezogen. Sie dachten sicher: Das ist eins von diesen hysterischen Weibern, die nicht wahrhaben wollen, dass sie sitzengelassen wurden.
Telefon!
Es war meine Mutter.
»Du hast in drei Tagen Geburtstag«, sagte sie.
»Gut, dass du mich erinnerst«, sagte ich.
Sie stöhnte, und ich konnte mir vorstellen, wie sie sich mit dem Zeigefinger die Schläfe massierte, die Augen geschlossen. »Ich rufe an, weil ich wissen will, ob du dir etwas von uns wünschst.«
»Nein.«
»Gut. Dein Vater hat nämlich ausdrücklich gesagt, er wird dir dieses Jahr kein Geld überweisen, weil du es sowieso wieder zurückschickst.«
»Da hat er in den letzten zehn Jahren tatsächlich was dazugelernt.«
»Du bist wirklich nicht normal.«
»Danke.« Nein, wirklich, es freut mich. Ihre Definition von »normal« ist nicht erstrebenswert.
Sie seufzte wieder. »Du feierst mit … Sean?«
»Höchstwahrscheinlich.«
Noch zwei, drei Floskeln, ein angeblicher Gruß von »deiner lieben Schwester« (Dana lässt mich nie grüßen, Mutter tut aber immer so), und wir beendeten die Quälerei in beidseitigem Einvernehmen. Ich hasse es, mit ihr zu telefonieren, und sie hat schließlich auch interessantere Zeitvertreibe. Sich mit ihren Freundinnen im Golfclubhaus an der Bar festhalten, zum Beispiel.
Ich habe ihr nicht gesagt, dass Sean verschwunden ist, sie hätte sonst nur wieder angefangen mit dem Üblichen »Ich hab dir doch gleich gesagt, er wird nur Ärger machen«-Mist.
Montag, 29. November 2010
1.
Menschen, die seine Privatnummer kannten: fünf.
Davon Menschen, über deren Anruf er sich freuen würde: null.
Schon gar nicht abends um halb zehn. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine gute Nachricht handelte, war: keine. Normalerweise rief man ihn auf seinem Handy an oder schrieb ihm eine Mail auf seinen geschäftlichen Account.
Cedric sah auf das Display: seine Stiefmutter. Er wünschte sich, er könnte neben dem Telefon sitzen und es ignorieren, bis Lillian aufgab. Zwei Dinge, die nicht passieren würden: Erstens, Lillian gäbe auf, wenn sie die Gelegenheit hatte, ihm auf die Nerven zu gehen. Zweitens, Cedric ignorierte einen Anruf. Das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben, würde ihn die ganze Nacht wachhalten. Gegen besseres
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