Metro2033
bringen, ihnen hier rauszuhelfen. Doch worüber konnte er mit einem Wilden sprechen, der vermutlich kaum die Hälfte seiner
Worte verstand? Artjom fragte das Erstbeste, was ihm in den Kopf kam. »Wer ist das, der Große Wurm?«
»Großer Wurm macht Erde. Macht Welt, macht Menschen. Großer Wurm ist alles. Ist Leben. Feinde von Großer Wurm, Maschinenmenschen sind Tod.«
»Ich habe noch nie von ihm gehört«, sagte Artjom vorsichtig. »Wo lebt er?«
»Großer Wurm lebt hier. Nebendran. Um uns. Gräbt alle Gänge. Mensch sagt später, dass er gräbt. Nein. Großer Wurm. Gibt Leben, nimmt Leben. Gräbt neue Gänge, Menschen leben drin. Gute Menschen beten zu Großer Wurm. Feinde wollen Großer Wurm töten. Priester sagen.«
»Wer sind die Priester?«
»Alte Menschen, mit Haaren auf Kopf. Nur sie können. Sie wissen, hören Wünsche von Großer Wurm, sagen Menschen. Gute Menschen machen so. Schlechte Menschen gehorchen nicht. Schlechte Menschen Feinde, gute Menschen sie essen.«
Artjom dachte an das Gespräch, dass er vorhin mitgehört hatte, und begann zu begreifen: Offenbar war der alte Mann, der die Legende vom Großen Wurm erzählt hatte, einer dieser Priester. Er versuchte, so zu formulieren, dass ihn der andere verstand. »Priester sagt: Man darf Menschen nicht essen. Er sagt, Großer Wurm weint, wenn ein Mensch den anderen isst. Menschen zu essen ist gegen den Willen des Großen Wurms. Wenn wir hierbleiben, werden wir gegessen. Der Große Wurm wird trauern und weinen.«
»Natürlich wird der Große Wurm weinen«, erklang eine spöttische Stimme aus der Dunkelheit. »Aber mit Gefühlen lässt sich der nötige Eiweißanteil in der Nahrung eben nicht ersetzen.«
Der da sprach, war der Alte von vorhin. Artjom hatte die Stimme sofort wiedererkannt. Hatte sich jener schon die ganze Zeit im Raum befunden, oder war er eben erst unbemerkt wieder hereingeschlichen? Wie auch immer: Auf eine Flucht konnte Artjom nun nicht mehr hoffen.
Und dann kam ihm ein Gedanke, der ihn frösteln ließ. Zum Glück war Anton noch nicht aufgewacht... Dieser Gedanke war so grauenvoll, dass Artjom mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrte und tonlos fragte: »Und das Kind? Die Kinder, die ihr stehlt? Esst ihr sie auch? Den Jungen? Oleg?«
»Kleine essen wir nicht«, erwiderte der Wilde. »Kleine können nicht böse sein. Können nicht Feinde sein. Kleine wir holen und erklären, wie sollen leben. Erzählen von Großer Wurm. Lehren, wie Großer Wurm anbeten.«
»Sehr gut, Dron«, lobte der Priester und erklärte: »Mein Lieblingsschüler.«
»Was ist mit dem Jungen passiert, den ihr letzte Nacht entführt habt? Wo ist er? Es war dieses Monster, das ihn fortgeschafft hat, das weiß ich.«
»Monster?«, explodierte der Alte. »Wer hat diese Monster denn hervorgebracht? Wer hat all diese stummen, dreiäugigen, armlosen, sechsfingrigen, totgeborenen und fortpflanzungsunfähigen Wesen überhaupt erst erzeugt? Wer hat sie verunstaltet, ihnen das Paradies versprochen und sie dann in den Blinddarm dieser verfluchten Stadt verdammt, damit sie darin verrecken? Wer ist an alldem schuld, und wer ist nach alldem das wahre Monster?«
Artjom schwieg. Auch der Alte sagte nichts mehr. Schwer atmend versuchte er sich zu beruhigen.
In diesem Augenblick kam Anton endlich wieder zu sich. »Wo ist er?«, flüsterte er heiser, dann steigerte er sich langsam zu lautem Schreien. »Wo ist mein Sohn? Wo ist mein Sohn? Gebt mir meinen Sohn!« Er versuchte sich zu befreien, begann auf dem Boden hin und her zu rollen. Dabei stieß er mal gegen die Gitterstäbe, mal gegen die Betonwand.
»Ein Tobsuchtsanfall«, kommentierte der Alte, jetzt wieder auf die bekannte spöttische Weise. »Dron, stell ihn ruhig.«
Ein seltsames Geräusch war zu hören, wie wenn jemand hustete oder kräftig ausspuckte. Etwas pfiff kurz durch die Luft, und nach wenigen Sekunden war Anton wieder still.
»Sehr aufschlussreich«, sagte der Priester. »Ich werde den Jungen herbringen, er soll seinen Vater noch einmal sehen und sich von ihm verabschieden. Übrigens ein ordentlicher Kerl, der Bengel, da kann sein Vater stolz sein. Wie der sich gegen die Hypnose wehrt ...« Er entfernte sich mit schlurfenden Schritten, dann öffnete sich quietschend die Tür.
»Keine Angst«, sagte ihr Bewacher kurz darauf überraschend sanft. »Gute Menschen töten nicht, essen nicht Kinder von Feinde. Kleine nicht sündig. Kann man beibringen gut zu leben. Großer Wurm verzeiht kleine
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