Metro2033
diese Frage eine genaue Antwort geben konnte. Also ging ich zu ihm ins Büro, um ein Referat zu besprechen, und fragte ihn anschließend ganz nebenbei: Was meinen Sie, Iwan Michalytsch, gibt es ihn, Gott? Er hat mich damals sehr überrascht. >Mir<, sagte er, >stellt sich diese Frage gar nicht. Ich komme aus einer gläubigen Familie und habe mich an den Gedanken gewöhnt, dass er existiert. Aus psychologischer Sicht will ich den Glauben erst gar nicht analysieren. Und überhaupt ist das für mich weniger eine Frage grundsätzlichen Wissens, sondern alltäglichen Handelns. Mein Glaube besteht nicht darin, dass ich aufrichtig überzeugt bin von der Existenz einer höheren Macht, sondern darin, dass ich die Gebote einhalte, vor dem Schlafengehen bete und in die Kirche gehe. Ich fühle mich dann besser und werde ruhiger.< So ist das.« Der Alte verstummte.
Nach einer Minute platzte Artjom heraus: »Und?«
»Nichts und. Ob ich an den Großen Wurm glaube oder nicht, ist nicht so wichtig. Doch Gebote, die von göttlichen Lippen verkündet werden, überdauern Jahrhunderte. Es braucht gar nicht viel. Man muss nur einen Gott schaffen und ihm beibringen, die richtigen Worte zu sprechen. Und glaube mir, der Große Wurm ist nicht schlechter als andere Götter und wird viele davon überleben.«
Artjom schloss die Augen. Weder Dron noch der Führer dieses wunderlichen Stammes, ja nicht einmal solch seltsame Geschöpfe wie Wartan hatten offenbar jemals an der Existenz des Großen Wurms gezweifelt. Für sie war er gegeben, war er die einzige Erklärung dessen, was sie um sich sahen, die einzige Handlungsanweisung, das einzige Maß für Gut und Böse. Woran konnte ein Mensch denn sonst glauben, der in seinem Leben nichts anderes als die Metro gesehen hatte?
Doch an dem Mythos vom Großen Wurm war noch etwas, was Artjom nicht verstand. »Warum hetzen Sie sie gegen die Maschinen? Strom, Licht, Feuerwaffen - wie soll ihr Volk ohne all das überleben?«
»Was an Maschinen schlecht ist?« Die Stimme des Alten klang auf einmal gar nicht mehr so gespielt liebenswürdig und geduldig wie eben. »Willst du mir in der letzten Stunde deines Lebens etwa noch vom Nutzen der Maschinen predigen? Sieh dich doch um! Nur ein Blinder erkennt nicht, dass die Menschheit ihren Untergang einer Tatsache zu verdanken hat: Sie hat sich zu sehr auf die Maschinen verlassen. Wie kannst du es wagen, hier, an meiner Station, über die Bedeutung der Technik zu schwadronieren? Abschaum!«
Artjom hätte nicht gedacht, dass diese verhältnismäßig harmlose Frage bei dem Alten so eine Reaktion auslösen würde. Da er nichts zu erwidern wusste, schwieg er.
In der Dunkelheit atmete der Priester schwer, stieß unverständliche Flüche aus und versuchte sich zu beruhigen. Erst nach einigen Minuten hatte er sich wieder in der Gewalt und sagte: »Ich bin es einfach nicht mehr gewohnt, mit Ungläubigen zu sprechen. Richtig verplaudert hab ich mich mit dir. Wo bleibt das Jungvolk denn so lange? Die müssten eigentlich längst die Säcke gebracht haben ...«
»Was für Säcke?«
»Sie werden euch jetzt zubereiten. Als ich vorhin von Folter sprach, habe ich mich nämlich nicht korrekt ausgedrückt. Dem Großen Wurm ist jegliche sinnlose Grausamkeit zuwider. Wozu foltern, wenn einer von sich aus bereits alle Fragen beantwortet hat? Ich meinte etwas anderes. Als ich und meine Kollegen begriffen, dass sich das Phänomen Kannibalismus hier bereits etabliert hatte und nichts mehr dagegen zu unternehmen war, beschlossen wir, uns wenigstens um die kulinarische Seite der Angelegenheit zu kümmern. Und da erinnerte sich einer von uns daran, wie in Korea Hunde zubereitet werden: Man steckt sie lebend in einen Sack und schlägt sie mit Prügeln tot. Das Fleisch gewinnt dadurch an Qualität. Es wird weich und zart. Was für den einen multiple Hämatome sind, ist für den anderen sozusagen ein geklopftes Schnitzel. Also nehmt es uns bitte nicht übel. Ich könnte mir ja durchaus vorstellen, zuerst den Exitus herbeizuführen und dann prügeln zu lassen, aber leider sind innere Blutungen ein absolutes Muss. Rezept ist Rezept.« Der Alte entzündete das Feuerzeug, um zu sehen, welchen Effekt seine Worte erzielt hatten. Dann wandte er den Kopf nach hinten. »Das dauert aber lange. Hoffentlich ist nichts ...«
Ein markerschütterndes Kreischen unterbrach ihn mitten im Satz. Artjom hörte Schreie, Laufen, weinende Kinder und ein unheilvolles Zischen. Draußen war etwas passiert. Der
Weitere Kostenlose Bücher