Metropolis brennt
vor Jahren überall. Ein allgegenwärtiges Gift. Enthalten in: Farbstoffen, Lacken, Kunststoffen, Batterien, Keramik, Rostschutzmitteln, Lötmitteln, Zahnplomben, Plastiktüten. Die Ärztin faltet die Hände. Ihre Stimme ist monoton. Kann keinen Trost geben. Nicht bei dieser Erkrankung. Sie hat zu viele Cadmium-Kranke, zu viele Cadmium-Tote gesehen. Eisenerze, Kohle und Erdöl enthalten das toxische Schwermetall ebenfalls; im Stahlwerk, im privaten Haushalt, im Kraftwerk, in der Müllverbrennungsanlage wird ununterbrochen Cadmium in die Luft geblasen – das daraufhin zu einem Großteil wieder zu Boden regnet. Das Gift wird eingeatmet, versickert im Boden, sammelt sich in Weiden und Wiesen. Über Weidevieh und Grundwasser sowie das ebenfalls verseuchte Flußwasser gelangt das Gift über die Nahrungskette in den Menschen. Es ist überall. Ein gesetzlich vorgeschriebener Immissionswert existiert bis heute nicht, sagt die Ärztin, jedoch soll eine entsprechende Vorlage in Vorbereitung sein. In Vorbereitung. Ausschüsse tagen. Konferenzen/Konferenzen/Herren in Grau, die am grünen Tisch über Schachfiguren urteilen. Konferenzen. Zu spät. Zu spät. Viel zu spät.
„Wir wissen jetzt alles über dich, Freak“, sagte eine zufriedene Männerstimme. „Und damit bist du erledigt. Abgehakt. Aus dem Spiel ausgeschieden. Merkst du es?“
Vharn gab den Impuls, setzte sich auf und bemerkte erst jetzt zu seiner eigenen Überraschung, daß er nicht mehr in dem Silbergespinst hing, daß er nicht mehr nackt war. Er trug den Doppelpneum-Anzug, der Prograv funktionierte zuverlässig, soweit er dies im Augenblick feststellen konnte. Er konnte sich bewegen, konnte denken, handeln, konnte …
Er wollte sich vorbeugen, zu dem hageren, bleichen Mann hin, der hinter seinem wuchtigen Kunstholzschreibtisch saß und ihn wie ein seltenes Insekt beäugte und schleimige Zufriedenheit ausstrahlte. Er wollte nach Mirja fragen, doch dann unterdrückte er diese Frage, weil er plötzlich wußte, daß er ihr damit mehr schaden als nützen würde. Sie würden sie nicht freilassen, wenn sie wußten, daß er an ihr hing.
Aber das wußten sie ja.
Sie hatten ihm seine geheimsten Gedanken gestohlen. Alles.
Der Arzt wischte ein Stäubchen von seinem schneeweißen, faltenlosen Kittel. „Ich sehe, du bist mißtrauisch, Freak“, sagte er.
Noch immer erwiderte Vharn nichts.
Erstarrt, steif saß er in dem Pneumosessel, der ihn stützend umgab, saß vor dem wuchtigen, respektdiktierenden Schreibtisch, in einem nüchternen Büro mit weißen Wänden. In einem benachbarten Büro waren Stimmen zu hören, Telefone klingelten, Schreibautomaten hämmerten. Vharn dachte: Ich bin wieder in der Welt der Lebenden.
Er versuchte, den Arzt zu sondieren. Versuchte, die schleimige Zufriedenheit seines Gegenübers genauer zu spüren, wollte sich selbst damit geißeln, wollte sich für seine Aberwitzigkeit bestrafen. Eine fixe Idee. Das Eindringen in den Stadtwald. Provokation eines mächtigen Staatsapparates. Was hatte er damit erreicht? Was?
Er konnte nicht mehr fühlen!
Vharn stieß einen krächzenden Laut aus, seine Zunge klebte dick, geschwollen, trocken an seinem ebenfalls pulvertrockenen Gaumen.
Der Arzt lächelte. „Du hast es also endlich bemerkt“, sagte er genüßlich. „Nun, dann wollen wir zu einem Ende kommen, Freak.
Hör mir genau zu, denn ich werde kein einziges Wort wiederholen.
Du bist frei. Du kannst gehen, wohin du willst. Du behältst deinen Prograv und deinen Doppelpneum-Anzug, also kannst du dich beileibe nicht beklagen. Wir sind keine Unmenschen.“ Ein feines, gehässiges Lächeln
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