Meuterei auf der Deutschland
deutschen Piraten in einem polarisierten Wahlkampf schließlich (ähnlich wie die schwedische Schwesterpartei) an den Rand gedrängt oder überhört werden. Außerdem weichen die Interessen der Wähler in einigen Fällen sichtbar von den Positionen der Partei ab: Während die Piraten beispielsweise dezidiert gegen das Betreuungsgeld sind, sprechen sich ihre Anhänger mehrheitlich dafür aus.
4.2 Partizipation als Schlüssel
Den Piraten fällt es freilich nicht gerade leicht, schlüssige und dauerhafte programmatische Positionen zu erarbeiten. Trotz einer zweifelsohne erkennbaren ideologischen Fundierung ist die Scheu zu groß, ohne gleichzeitige Rückkopplung an die Parteibasis Positionen zu beziehen. Wegen des basisdemokratischen Selbstverständnisses muss grundsätzlich immer zuerst die Meinung der Mitglieder und Sympathisanten eingeholt werden.
Zweifelsohne rücken Aktivitäten der Basis bei den Piraten stark ins Zentrum. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob man das von der Partei proklamierte Konzept wirklich basisdemokratisch nennen kann, Demokratie ist schließlich ein überaus schillernder Begriff. Die dahinterliegende Staatskonzeption ist vielschichtig und keineswegs einheitlich oder überhistorisch stabil. Dennoch gibt es eine Reihe von Gütekriterien, die an eine demokratische Ordnung anzulegen sind. Dazu zählen unter anderem ein klares, verständliches und verbindliches Wahl- und Entscheidungsverfahren mit einfachen Mitwirkungsmöglichkeiten, ein Vorrang der Mehrheit vor der Minderheit, wobei Letztere einen besonderen Schutz genießt, eine Revidierbarkeit von Entscheidungen und damit eine prinzipielle Offenheit hinsichtlich der Ergebnisse demokratischer Entscheidungen.
Bereits die Haltung der Piratenpartei zu dieser prinzipiellen Offenheit ist freilich ambivalent. Die Partei hat ein im IT -Sektor weitverbreitetes Verfahren übernommen und begreift die inhaltliche Arbeit analog zur Softwareentwicklung als einen linearen Prozess. Man schreibt ein Programm, das man später ändert oder gegebenenfalls um neue Module ergänzt. Mit der ursprünglichen Entscheidung für eine bestimmte Struktur schließt man allerdings Alternativen aus und legt einen Pfad für die weitere Entwicklung fest, unabhängig davon, ob dieser Pfad sich später noch als grundsätzlich sinnvoll erweist oder nicht. Auf diese Weise überleben auch in moderner Software etliche Relikte aus älteren Programmen (Lanier 2010, S. 161; Schirrmacher 2009, S. 51). Grundsätzlich infrage gestellt wird der gewachsene Bestand nur, wenn sich eine Mehrheit der Beteiligten davon eindeutige Fortschritte verspricht. Elemente dieser Haltung finden sich bei den Piraten in zweierlei Form wieder. Auf der einen Seite sind Programmänderungen nur mit Zweidrittelmehrheit möglich. Daraus leitet sich dann trotz aller Bekenntnisse zu Offenheit, Meinungsfreiheit und Partizipation eine beinahe maoistische Treue zu einmal erarbeiteten Positionen ab. Auf der anderen Seite werden gerade Neumitglieder permanent dazu aufgefordert, nachzuschauen, ob die Partei sich zu ihrem Anliegen eventuell schon eine Position erarbeitet hat.
Diese Herangehensweise führt zu zwei Problemen: Zum einen haben erfahrene Mitglieder einen deutlichen Wissensvorsprung, weil sie von Anfang an dabei waren und mit der Genese der Partei vertraut sind; zum anderen führt die Festlegung auf einen bestimmten Pfad dazu, dass eine programmatische Offenheit nur bedingt gegeben ist. Ein kohärentes Programm lässt sich daher nicht ohne Weiteres entwickeln, und es entspricht auch nicht dem Bedürfnis der Parteimitglieder: Knapp vier Fünftel der Piraten identifizieren sich mit den Zielen der Partei, doch nur ein Fünftel gibt an, selbst eine politische Agenda zu haben, die man mithilfe der Partei umsetzen könne (Kegelklub 2012, S. 11). Das heißt, dass die überwiegende Mehrheit der Anhänger mit den aktuellen Positionen zufrieden ist und gar nicht den Ehrgeiz hat, das Programm der Partei weiterzuentwickeln und zu vertiefen. Hier offenbart sich ein möglicherweise entscheidender Schwachpunkt für die Innovationskraft der Piraten: Die selbstreferenzielle Pflege lieb gewonnener Rituale, die langwierige Kür von Kandidaten und die permanenten Debatten über Verfahrensfragen drohen zum Selbstzweck zu verkommen. Dieser soziale Aspekt lässt sich ebenfalls aus parteiinternen Umfragen herauslesen: So geben immerhin 78 Prozent der Mitglieder an, das »piratige Miteinander« sei für sie einer der zentralen
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