Meuterei auf der Deutschland
Gründe für das Engagement in der Partei (ebd., 14). Das Gefühl, einfach nur dabei zu sein (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010, S. 19), ist ihnen wichtiger als Personalentscheidungen und das Mitwirken an der Klärung von Sachfragen. Der Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit, nach physischen Begegnungen mit Menschen, mit denen man zuvor nur im virtuellen Raum kommunizierte, ist dabei ebenfalls ein Erbe der frühen Netzgemeinde. Auch die für die Internetkultur in Deutschland einst wichtigen Mailboxen des CL -Netzes hielten nicht ohne Grund regelmäßige Stammtische ab, bei denen lokale Nutzer zusammenkamen, um Themen rund um ihre Arbeit zu diskutierten (Lokk 2008, S. 23).
Es geht beim »piratigen Miteinander« also um gelegentliche Begegnungen zwischen Individuen, die sich ansonsten in virtuellen Räumen bewegen, die sich dort frei assoziieren, während ihnen jede Einbindung in Verbände oder Interessenvereinigungen grundsätzlich fremd ist. Hier liegt ein zentraler Unterschied zu SPD , Unionsparteien oder Grünen, die aus einem organisatorischen Um- und Vorfeld heraus entstanden sind bzw. sich auf dieses lange Zeit recht zuverlässig stützen und aus diesem heraus ihre politische Agenda festsetzen oder modifizieren konnten (Langguth 1984, S. 10 ff.). Feste Bündniskontakte zu anderen Organisationen unterhalten die Piraten kaum, sie lehnen diese sogar in Teilen ab (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010, S. 17). Korporatistische Strukturen, die Macht von Verbänden und Lobbyorganisationen sind der Partei aufgrund ihres idealistischen, vielleicht gar naiven Demokratieverständnisses schließlich prinzipiell verdächtig. Die Piraten sind somit massiv davon abhängig, dass sich ihre individualisierte Klientel engagiert und assoziiert.
Um deren Bedürfnissen Rechnung zu tragen, vollzieht sich die Willensbildung grundsätzlich in Form von Vollversammlungen. Das führt dazu, dass Parteitage, also die einzige Instanz, die überhaupt die Legitimation hat, im Namen der Gesamtpartei Entschlüsse zu fassen und Streitfragen zu klären, enorm schwerfällig sind und ihre Ergebnisse bereits von der Wahl des Versammlungsortes abhängen können. So gewann auf dem Parteitag im baden-württembergischen Heidenheim 2011 Sebastian Nerz aus Tübingen die Abstimmung zum Vorsitzenden gegen den Berliner Christopher Lauer; ein Jahr später setzte sich dann im schleswig-holsteinischen Neumünster der in Hamburg und Berlin lebende Bernd Schlömer gegen Nerz durch. Auch bei der Aufstellung der Landeslisten zu den Wahlen in den Flächenländern Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hat das Prinzip der Vollversammlung zu Schwerpunktbildungen geführt, die wenigstens zum Teil mit der Wahl des Versammlungsortes zusammenhängen.
Daraus dürfte sich eine gewisse Pfadabhängigkeit ergeben, die nicht so leicht zu korrigieren sein wird. Weil die bevorteilten Regionen mehr Abgeordnete stellen und dadurch auch über Ressourcen wie Büros oder Ähnliches verfügen, werden sie künftig versuchen, diesen Standard zu verteidigen. Während die etablierten Parteien solchen Tendenzen durch einen gewissen regionalen Proporzausgleich entgegentreten, führt das Vollversammlungsprinzipdazu, dass sich die Anfangsvorteile fortschreiben. Ohne »Filter« wie Delegierte, ohne Anpassungsmechanismen wie Grundmandate oder andere Ausgleichsfaktoren kommt es also zu einem »Matthäus-Effekt«: Wer hat, dem wird gegeben (Merton 1985).
Bei den inhaltlichen Beschlüssen führt das Prinzip der Vollversammlung zu einer gewissen Volatilität und Unberechenbarkeit, schließlich ist es den Piraten an der Basis nicht möglich, ihre Interessen zu delegieren. Während die Mitglieder anderer Parteien davon ausgehen können, dass ihre Vertreter die ihnen mit auf den Weg gegebenen Positionen verteidigen und für einen Interessenausgleich auf der nächsthöheren Ebene kämpfen werden, sind die Ergebnisse basisnaher Diskussionsrunden und Veranstaltungen auf Piratenparteitagen schnell nur noch Makulatur. Im Prinzip muss der einzelne Pirat selbst aktiv werden und zur entsprechenden Versammlung fahren, so dass auch der Termin Einfluss auf das Programm der Partei haben kann.
Das Kernproblem ist aber weniger der hohe Aufwand, der sich damit für die einzelnen Mitglieder verbindet, als vielmehr das Fehlen einer verbindlichen Wahlordnung. Gerade weil die Wahl von Vorständen oder von Kandidaten für Parlamente eine der zentralen Kernaufgaben von Parteien ist, stellt dies aus demokratietheoretischer Sicht einen
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