Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
auch daran, dass wir nichts für die Schule hatten. Mein Bruder und ich hatten keine Bücher, keine Hefte, keine Stifte oder gar einen Schulranzen. In meinerStofftüte, die als Schultasche diente, transportierte ich im Sommer das Pausebrot und im Winter ein Holzscheit. Und vom Zuhören im Unterricht ist kaum etwas hängen geblieben. Insgesamt bin ich sowieso nur bis zur dritten Klasse gekommen, weil ich auch ein paar Mal sitzen geblieben bin.
Aber die Versetzung wurde nicht nur wegen schlechter Leistungen verweigert, sondern auch, wenn man mehr als zwanzig Tage im Schuljahr gefehlt hatte. War das der Fall gewesen, konnte man nicht in die nächste Klasse aufrücken. Und ich habe oft gefehlt. Wenn Arbeit anstand, und das war oft, dann hat Vater uns eben nicht in die Schule geschickt. So einfach war das. Selbstverständlich gab es in der Türkei damals eine allgemeine Schulpflicht, die dauerte insgesamt fünf Jahre. Und die Eltern, die ihre Kinder nicht schickten, mussten mit einer Geldstrafe rechnen. Aber ich glaube, wenn man mit dem Schulvorsteher gesprochen und ihm die missliche Lage erklärt hat, dann ging es auch ohne Geldbuße. Ich jedenfalls kann mich nicht erinnern, dass mein Vater je etwas bezahlen musste, sonst hätte er sicher getobt.
Doch ich hatte auch ein bisschen Glück in der Schule, wobei das mit dem Unterricht überhaupt nichts zu tun hatte. Und zwar hatten wir eine Lehrerin, die mich manchmal zum Arbeiten einspannte. Das war eine sehr nette, junge Person. Und ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet mich ausgesucht hat. Aber es war so. Eines Tages hat sie mich zu sich ans Pult gerufen und mir gesagt, dass ich jetzt zu ihr nach Hause gehen müsse, um auf ihr Baby aufzupassen. War ich besonders vertrauenswürdig? Oder dachte sie, die kriegt in der Schule ohnehin nichts mit? Ich habe es nie erfahren, und zu fragen traute ich mich nicht. Das gibt’s bei uns nicht. Kinder fragen nicht, sie machen das, was man ihnen sagt. Wie auch immer, ich fühlte mich von so viel Vertrauen geschmeichelt und war froh, dem Unterricht entkommen zu können. Also bin ich ganz schnell in unser Dorf zurückgelaufen, dabei habe ich darauf geachtet, dass mich keiner sieht. Denn obwohl mein Vater die Schule besonders für uns Mädchenfür unnützen Zeitvertreib hielt, hätte ihm meine Nebenbeschäftigung sicher nicht gefallen. Gott sei Dank wohnte sie am Dorfeingang, so dass ich ungesehen ins Haus meiner Lehrerin schlüpfen konnte. Sie lebte zusammen mit ihrem Mann, der ebenfalls Lehrer an unserer Schule war, ihrer Mutter und der kleinen Tochter. Ich glaube, die war damals noch kein Jahr alt, als ich mit dem Babysitten anfing.
Das war eine herrliche Zeit. Das Baby war ganz entzückend, und ich spielte mit ihm wie mit einer Puppe. Außerdem war das Haus geräumiger als unseres und viel schöner eingerichtet. Im Ofen prasselte ein Feuer, und die Großmutter hatte immer ein leckeres Essen auf dem Herd. Ich musste auf das Baby aufpassen, es wickeln, füttern und schlafen legen. Das war für mich keine Arbeit. Im Vergleich zu dem, was ich sonst zu tun hatte, war es das reinste Vergnügen. Während die anderen in der Schule saßen und Lesen und Schreiben lernten, konnte ich mich ausruhen. Alle paar Stunden gab es etwas zu essen, und danach konnte ich wieder mit dem Kleinkind spielen. Einziger Wermutstropfen: Wir durften nicht aus dem Haus, denn hätte man mich mit dem Baby gesehen, wäre das weder für mich noch für meine Lehrerin gut ausgegangen. So sagte ich niemandem, wie ich manche Tage verbrachte, sondern genoss einfach die Zeit im Haus meiner Lehrerin. Es gab keine festen Tage, an denen ich auf ihr Kind aufpasste. Die Lehrerin hat mich am Vortag zu sich gerufen und gesagt: » Ayşe , morgen kommst du nicht in die Schule, sondern gehst stattdessen zu mir nach Hause und passt auf die Kleine auf.« Als Lohn gab sie mir manchmal Schokolade oder Bonbons. Dinge, die ich sonst so gut wie nie bekam. Und wenn am Nachmittag die Schule aus war, habe ich mich den anderen auf halbem Weg angeschlossen und bin glücklich und zufrieden nach Hause gegangen, ohne dass jemand je geahnt hätte, wo ich die ganze Zeit über gewesen war.
Der Hunger war in meiner Kindheit ein ständiger Begleiter. Zu essen hatten wir eigentlich nie genug, mir hat vor allem Fleischgefehlt. Es kam vor, dass wir monatelang überhaupt keines zu essen bekamen. So freuten wir Kinder uns besonders auf das Ende des Fastenmonats Ramadan. Denn da war es anders. Ein
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