Mick Jagger: Rebell und Rockstar
Rock’n’Roll-Sänger zeichneten sich nicht dadurch aus, dass sie gebildet waren.«
© White & Reed/Rex USA
Schon als Jugendlicher beliebt: Mick (hinten, ganz rechts), der geborene Athlet, während seiner Zeit an der Dartford Grammar School for Boys, 1960.
Es dauerte nicht lange und der Rock’n’Roll – als Sound und revolutionäre Haltung gleichermaßen – hatte mehr Einfluss auf den pubertierenden Mick, als es sich sein Vater mit seinem altmodischen Drill jemals hätte vorstellen können. Es existiert sogar Filmmaterial, das dies belegt: Für eine Folge der BBC-Sendung Seeing Sport vom Herbst 1957 erklomm der damals gerade vierzehnjährige Mick zusammen mit zwei anderen Jungen und seinem Vater Joe pflichtbewusst einen Sandsteinfelsen in Turnbridge Wells, um die Zuschauer über das richtige Schuhwerk für ein derartiges Unternehmen aufzuklären. »Michael hier trägt ein Paar gewöhnliche Turnschuhe«, erklärt Joe, nimmt den Fuß seines Sohnes und hält ihn in die Kamera. Das anwesende Publikum lacht, während Joe, der Moderator, seinen Jungen zu einer Art Schuhmodel macht. Mick, dessen Gesicht noch die letzten Spuren von Babyspeck aufweist, grinst und funkelt seinen Vater amüsiert, aber auch eine Spur verächtlich an – ein Gesichtsausdruck der etwa ein halbes Jahrzehnt später zum symbolischen Ausdruck der selbstbewussten Jugend wird. In diesem fortgeschrittenen Stadium der Pubertät, in dem die meisten Jungen nichts als Sex im Kopf haben, war für Mick immer noch sein Vater mit seinen klaren Prinzipien das Vorbild. »Ich hatte nie eine wilde Jugend«, erinnerte er sich 1973 im NME . Diese Phase sollte er Anfang der 60er jedoch rasch nachholen.
Joe Jagger gab seinen Erstgeborenen allerdings nicht so einfach auf und zauberte eine, wie er glaubte, Geheimwaffe aus dem Hut, ein weiterer US-Import mit einer ebensolchen Faszinationskraft wie Gitarre, Bass und Schlagzeug: Basketball. Obwohl diese Sportart in Großbritannien kaum bekannt war, hatte Joe gegen Ende der 50er-Jahre ein Basketballteam an der Dartford Grammar School zusammengestellt, das er betreute. Er machte Mick zum Mannschaftskapitän und stattete die Spieler mit richtigen Basketballstiefeln aus, die er aus den USA bezog. Um diese Zeit herum kam Mick zum ersten Mal mit dem Blues in Berührung. Rein zufällig führte ihn sein Weg vom Rock’n’Roll zurück zu dessen Wurzeln. »Ich jobbte auf einem amerikanischen Militärstützpunkt in der Nähe von Dartford. Dort gab ich anderen Kindern Sportunterricht, weil ich ganz gut darin war«, sagte Mick. »Es gab da einen Schwarzen namens Jose, der dort als Koch arbeitete. Jose spielte mir R’n’B-Platten vor, und das war das erste Mal, das ich schwarze Musik hörte.«
Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, was den jungen Mick Jagger am Blues faszinierte. Im eher beschaulichen Dartford übten Songs über Glückspiel, leichte Mädchen und die schicksalhafte Ahnung, dass einem auf dieser Welt kein langes Leben beschert ist, eine ähnliche Anziehungskraft aus wie Western oder Gangsterfilme mit ihren blutrünstigen Handlungen, die man sich immer wieder ansieht, weil man sich darin verlieren kann. Auch der Blues erzählt im Wesentlichen Geschichten und versetzt einen in eine andere Welt. Seine Magie schlägt denjenigen in Bann, der ihn hört, ebenso, wie er den schwarzen Feldarbeiter, der ihn singt, von seiner harten, unbarmherzigen Fron ablenkt. Ganz gleich ob es der archaische, akustische Delta Blues oder die fortschrittlichere elektrische Spielart aus Chicago war, der Blues vertrieb Eintönigkeit und Schmerz, war sexy und oft heiter und wirkte immer hypnotisierend; der Beat ließ sich auf einer Bratpfanne reproduzieren oder auf dem Rücken eines Schulbuchs. »Es war der Sound, der uns fesselte«, sagt Dick Taylor. »Wenn du Howlin’ Wolf oder Chuck Berry zum ersten Mal hörst – dieser Sound ist einfach unglaublich. Und Mick hatte es die Sprache angetan. Chuck Berry war ein sagenhafter Poet. Seine Sprache war extrem ausdrucksstark. Mick versenkte sich richtig in die Songtexte. Er hörte ganz genau zu und schrieb alles mit. Wir verbrachten eine Menge Zeit damit, Platten zu hören und die Texte richtig zu verstehen.« R’n’B war so etwas wie eine neue, schnelle und gewitzte Sprache, eine innovative Kommunikationsform. Für eine Handvoll weißer britischer Kids, die zu Beginn der 60er in ihren Familien vor allem zu parieren hatten und in der Schule noch Prügel riskierten, wenn sie ohne Aufforderung
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