Mick Jagger: Rebell und Rockstar
einigen seiner Lieblingsalben unter dem Arm – darunter auch die beiden Chess-Importe Rockin’ at the Hops von Chuck Berry und The Best of Muddy Waters –, als ein etwas raubeinig wirkender Typ, der Cowboystiefel und ein violettes Westernhemd trug, auf ihn zukam. Instinktiv hielt er seine Platten fester umklammert, er witterte Ärger. Doch als der Typ näherkam, entspannte er sich wieder. Mick erkannte seinen alten Schulfreund Keith. Seit der inzwischen Siebzehnjährige vom Dartford Tech geflogen war, ging er auf das Sidcup Art College, das er jedoch auch bald wieder verlassen sollte. Keith war genau so wie Mick vom Rock’n’Roll zum Blues gekommen, und auch er fühlte sich dieser Musik sehr verbunden. Seine akustische Westerngitarre hatte er bereits gegen eine elektrische Hofner getauscht. Während sie zusammen nach Hause fuhren, erzählte Mick Keith, dass er zusammen mit Taylor auftrat. Keith interessierte sich für die Platten und Mick erlaubte ihm, sich seine Heiligtümer genauer anzusehen. Er war wohl stolz, dass ihn sein einst taffer Freund aus Kindertagen nun als Gleichgesinnten, wenn nicht sogar als den in kulturellen Dingen Beschlageneren betrachtete. »Ich hab noch mehr solcher Alben zu Hause«, sagte Mick. Und Keith meinte, er solle doch mal mit ein paar Scheiben bei ihm vorbeikommen. »Ich lud ihn auf eine Tasse Tee zu mir nach Hause ein«, sagte Keith. »Er spielte mir diese Platten vor und ich fuhr voll darauf ab.« Keith erzählte Mick, dass er Gitarre spielt. »Und was kannst du?«, fragte er aufgeregt. Und Mick, der als Kind von seiner Mutter dazu ermutigt worden war, ohne dass es mehr als ein kleiner Spaß innerhalb der Familie gewesen war, sagte: »Ich singe gern.«
© Keystone Features/Hulton Archive/Getty Images
Mick wagte mit zwei Schulfreunden den Sprung vom Plattensammler und Bluesfan zum Musiker, und es war keine Frage, dass er den Part des Sängers übernahm.
DEN
BLUES
PREDIGEN
KAPITEL 2
N ach und nach wurden die Dartforder Jungs richtige Londoner. Weil er verlässlich und umsichtig war, durfte Mick hin und wieder das Familienauto benutzen. Dann nahm er Keith, Dick Taylor, Bob Beckwith und die jeweils aktuelle Freundin mit in die City oder zu Blues-Konzerten nach Manchester. Das zufällige Wiedersehen mit Keith war ein ungemein einschneidendes Erlebnis gewesen, und in ihrer Begeisterung für R’n’B beflügelten sie sich gegenseitig. »Es war großartig, noch jemanden kennenzulernen, der diese Leidenschaft teilte«, so Dick Taylor. »Gemeinsam ist man stark.« Doch mit den modisch gekleideten, schicken Jazzern, die die Londoner Clubszene beherrschten, konnten sie nicht mithalten. Sie sahen eben aus wie typische Studenten und wirkten ein bisschen ungepflegt mit ihren pickligen Gesichtern und den ausgewaschenen Sweatshirts. Mick und Keith inspirierten sich gegenseitig, wodurch sie ein enormes Selbstvertrauen erlangten. Sie rissen einander mit, begeisterten sich für neue Ideen und schließlich war in ihnen die Einsicht greift, dass sie Dartford verlassen mussten.
Alexis Korner hatte wirklich Stil. Der Gitarrist mit den griechisch-österreichischen Wurzeln fiel auf mit seinem Spitzbärtchen, der adretten Garderobe, seiner etwas antiquierten Ausdrucksweise und seinem unermüdlichen Engagement für den Blues. Zusammen mit dem Londoner Musiker Cyril Davies tingelte er durch die Jazzlokale der britischen Hauptstadt, um so viele Menschen wie möglich für die andere bedeutende Musikrichtung aus Amerika zu begeistern. Davies spielte Mundharmonika, bis sein rundliches Gesicht dunkelrot anlief. Weil sie Ende der 50er-Jahre zusammen mit Muddy Waters bei der von ihnen selbst initiierten »Blues Night« im Roundhouse Pub aufgetreten waren, hatte sich das ungewöhnliche Duo 1961 längst als Vermittler dieser neuen Musik einen Namen gemacht.
© Huton-Deutsch Collection/Corbis
Mick und Keith öffnen ihre allererste Fanpost, 1963.
Der zentrale Treffpunkt für junge Bluesfans war damals der Ealing Club. Little Boy Blue and the Blue Boys hatten ihm bereits auf einem ihrer Ausflüge nach London und rauf in den Norden einen Besuch abgestattet. Inzwischen waren sie jedes Wochenende dort und schon bald wagten sie davon zu träumen, einmal selbst auf der kleinen Bühne aufzutreten. Jeden Samstag sahen sie dort Korner und Davies mit ihrer Band Blues Incorporated. Mick, der selbst gerne Mundharmonika spielen wollte, konzentrierte sich von seinem Platz im stickigen Zuschauerraum aus oft
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