Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
saß ein alter Mann im Schlafrock mit Holzpantoffeln. Er war groß, hatte hohle Wangen und stechende Augen.
Von der Ohe zur Ohe, angenehm. Worüber lachen Sie?
Er lache nicht, sagte Gauß. Er sei der staatliche Landvermesser. Er lache nie und habe sich bloß vorstellen wollen und für die Gastfreundschaft bedanken.
Der Graf fragte, ob er deshalb geweckt worden sei.
Genau deshalb, sagte Gauß. Jetzt wünsche er eine gute Nacht! Zufrieden folgte er dem Diener eine weitere Treppe hinunter und einen besonders stickigen Gang entlang. Diese Leute würden ihn nie wieder wie einen Domestiken behandeln!
Sein Triumph hielt nicht lange an. Der Diener brachte ihn in ein fürchterliches Loch. Es stank, auf dem Boden lagen Reste von fauligem Heu, ein Holzbrett diente als Bett, zum Waschen war ein rostiger Eimer mit nicht ganz sauberem Wasser gefüllt, ein Abort nicht zu sehen.
Er habe ja schon einiges erlebt, sagte Gauß. Vor zwei Wochen habe ein Bauer ihm seine Hundehütte angeboten. Aber die sei schöner gewesen als das hier.
Das möge sein, sagte der Diener, bereits im Gehen. Aber etwas anderes gebe es nicht.
Stöhnend zwängte sich Gauß auf die Holzpritsche. Das Kissen war hart und roch nicht gut. Er legte seine Mütze darauf, aber das half nicht. Lange konnte er nicht einschlafen. Sein Rücken tat weh, die Luft war schlecht, er fürchtete sich vor Geistern, und wie jeden Abend fehlte ihm Johanna. Da war man einen Moment nicht aufmerksam gewesen, und schon hatte man ein Amt, zog durch die Wälder und verhandelte mit Bauern um ihre schiefen Bäume. Heute nachmittag erst hatte er für eine alte Birke das Fünffache ihres Wertes bezahlt. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis seine Helfer endlich den störrischen Stamm durchgesägt hatten und er Eugens Leuchtsignal mit dem Theodoliten anpeilen konnte. Natürlich hatte der Esel zunächst in die falsche Richtung geblinkt! Morgen würden sie sich treffen, und er mußte sich darum kümmern, wie man von dort in höchstens zwei Geraden zum nächsten Knotenpunkt kam. Das war jetzt sein Beruf. Das astronomische Buch war längst erschienen, von der Universität war er beurlaubt. Immerhin war die Arbeit gut bezahlt, und wenn man nicht dumm war, konnte man auf verschiedene Arten noch ein wenig nebenbei verdienen. Über diesen Gedanken schlief er ein.
Am frühen Morgen weckte ihn ein quälender Traum. Er sah sich selbst auf der Pritsche liegen und davon träumen, daß er auf der Pritsche lag und davon träumte, auf der Pritsche zu liegen und zu träumen. Beklommen setz’te er sich auf und wußte sofort, daß das Erwachen noch vor ihm lag. Dann wechselte er in wenigen Sekunden von einer Wirklichkeit in die nächste und wieder nächste, und keine hatte etwas Besseres zu bieten als dasselbe verdreckte Zimmer mit Heu auf dem Boden und einem Wassereimer in der Ecke. Einmal stand eine hohe, verschattete Gestalt in der Tür, ein andermal lag ein toter Hund in der Ecke, dann hatte sich ein Kind mit einer hölzernen Maske hereinverirrt, aber bevor er es deutlich sehen konnte, war es schon wieder weg. Als er schließlich erschöpft auf dem Bettrand saß und in den sonnigen Morgenhimmel sah, konnte er das Gefühl nicht loswerden, daß er jene Wirklichkeit, in die er gehörte, um einen Schritt verfehlt hatte. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und dachte an Eugen, den er am Nachmittag treffen würde. Üblicherweise besserte es seine Laune, wenn er ihn anschreien konnte. Er kleidete sich an und ging gähnend hinaus.
Er kam durch Zimmerfluchten mit von der Zeit recht mitgenommenen Gemälden: ernste Männer, ungelenk gemalt, die Farbe zu dick aufgetragen. Möbel aus fleckigem Holz, viel Staub. Nachdenklich blieb er vor einem Spiegel stehen. Ihm gefiel nicht, was er sah. Er öffnete einige Schubladen, sie waren leer. Erleichtert fand er eine Gittertür in den Garten.
Dieser war mit erstaunlicher Sorgfalt angelegt: Palmen, Orchideen, Orangenbäume, bizarr geformte Kakteen und allerlei Pflanzen, die Gauß noch nicht einmal auf Bildern gesehen hatte. Kies knirschte unter seinen Schuhen, eine Liane streifte ihm die Mütze vom Kopf. Es duftete süßlich, zerplatzte Früchte lagen auf dem Boden. Der Bewuchs wurde dichter, der Weg schmaler, er mußte geduckt gehen. Was für eine Verschwendung! Er hoffte nur, daß es hier nicht auch noch ftemdartige Insekten gab. Als er sich zwischen zwei Palmenstämmen hindurchschob, blieb er mit der Jacke hängen und wäre fast in einen Dornenstrauch gestolpert. Dann
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