Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
elliptisch geformten Arbeitszimmer des Präsidenten. Jefferson lehnte sich zurück und nahm seine Brille ab. Bifokalgläser, erklärte er, sehr brauchbar, eine der vielen Erfindungen seines Freundes Franklin. Offen gesagt, der Mann sei ihm immer unheimlich gewesen, er habe ihn nie begriffen. Ja natürlich, gern. Hier! Während Humboldt die Brille untersuchte, faltete Jefferson die Hände auf der Brust und begann Fragen zu stellen. Wenn Humboldt abschweifte, schüttelte er mild den Kopf, unterbrach und fragte noch einmal. Auf dem Tisch lag wie zufällig eine Karte von Mittelamerika. Er wollte alles über Neuspanien, dessen Transportwege und Bergwerke wissen. Es interessierte ihn, wie die Administration arbeitete, wie im Land und über den Ozean hinweg Befehle übermittelt wurden, wie die Stimmung unter den Adeligen war, wie groß die Armee, wie ausgerüstet, wie gut ausgebildet. Wenn man eine Großmacht zum Nachbarn habe, könne man nie genug Information besitzen. Dennoch mache er den Herrn Baron darauf aufmerksam, daß er im Auftrag der spanischen Krone gereist sei. Womöglich verpflichte ihn das zu Verschwie genheit. Ach warum, sagte Humboldt. Wem solle es schaden? Er beugte sich über die Karte, deren zahlreiche Fehler er gerade berichtigt hatte, und markierte mit genau gesetzten Kreuzen die Standorte der wichtigsten Garnisonen. Jefferson bedankte sich seufzend. Was wisse man hier schon? Man sei eine kleine Protestantengemeinde am Rand der Welt. Unendlich weit von allem. Humboldt warf einen Blick durchs Fenster. Zwei Arbeiter schleppten eine Leiter vorbei, ein dritter hob eine Kiesgrube aus. Um ehrlich zu sein, er könne es nicht erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Nach Berlin? Humboldt lachte. Kein Mensch von Verstand könne diese greuliche Stadt sein Zuhause nennen. Er meine natürlich Paris. In Berlin, soviel sei sicher, werde er nie wieder wohnen.
Der Sohn
Mißmutig legte Gauß seine Serviette weg. Das Essen hatte ihm gar nicht geschmeckt. Aber da er sich schlecht darüber beschweren konnte, begann er über die Stadt zu schimpfen. Er fragte, wie man es hier aushalten könne. Es habe auch Vorteile, sagte Humboldt unbestimmt. Welche?
Humboldt sah ein paar Sekunden starr auf die Tischplatte. Ihm schwebe vor, sagte er dann, die Erde mit einem Netz magnetischer Beobachtungsstationen zu überziehen. Er wolle herausfinden, ob es einen, zwei oder unzählige Magneten in ihrem Inneren gebe. Die Royal Society habe er schon dafür gewonnen, aber er brauche noch die Hilfe des Fürsten der Mathematiker! Dazu brauche man keinen besonderen Mathematiker, sagte Gauß. Er habe sich schon mit fünfzehn mit Magnetismus beschäftigt. Kinderkram. Bekomme man hier auch Tee? Konsterniert schnippte Humboldt mit den Fingern. Es war früher Nachmittag, und der Professor hatte sechzehn Stunden Schlaf hinter sich. Humboldt dagegen war wie jeden Tag um fünf Uhr morgens aufgestanden, hatte nicht gefrühstückt, sondern ein paar Versuche über die Fluktuation des Erdmagnetfelds gemacht, dann ein Memorandum über Kosten und möglichen Nutzen einer Robbenzucht in Warnemünde diktiert, vier Briefe an zwei Akademien aufgesetzt, mit Daguerre über das offenbar unlösbare Problem der chemischen Bildfixierung auf Kupferplatten diskutiert, zwei Tassen Kaffee getrunken, sich zehn Minuten ausgeruht und drei Kapitel seines Reisewerkes mit Fußnoten zur Kordillerenflora versehen. Er hatte mit dem Sekretär der Naturforschergesellschaft über den Ablauf des für den Abend geplanten Empfangs gesprochen, für den neuen mexikanischen Premierminister eine kleine Denkschrift über die Abpumpung von Grubenwasser geschrieben und die Fragebriefe zweier Biographen beantwortet. Dann war Gauß, schläfrig und schlecht gelaunt, aus dem Gästezimmer gekommen und hatte nach Frühstück verlangt. Was Berlin betreffe, sagte Humboldt, so habe er kaum eine Wahl gehabt. Nach langen Jahren in Paris sei ihm ... Er strich seine weißen Haare aus dem Gesicht, holte ein Taschentuch hervor, schneuzte sich leise, faltete es und strich es glatt, bevor er es zurück in die Tasche schob. Wie solle er das nun sagen? Das Geld ausgegangen?
Eine zu drastische Formulierung. Aber die Dokumentation der Reise habe seine Mittel mehr oder minder aufgebraucht. Vierunddreißig Bände. All die Tafeln und Stiche, die Karten und Illustrationen. Und das in Kriegszeiten, bei Materialknappheit und stark erhöhten Löhnen. Er habe ganz allein eine Akademie sein müssen. Und so sei er nun eben
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