Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
vielleicht kluge, vielleicht auch idiotische, sehe den Menschen, den man liebe, sterben, werde alt und dumm, erkranke und gehe unter die Erde. Man meine, man habe alles selbst entschieden. Erst die Mathematik zeige einem, daß man immer die breiten Pfade genommen habe. Despotie, wenn er das schon höre! Fürsten seien auch nur arme Schweine, die lebten, litten und stürben wie alle anderen. Die wahren Tyrannen seien die Naturgesetze.
Aber der Verstand, sagte Humboldt, forme die Gesetze!
Der alte kantische Unsinn. Gauß schüttelte den Kopf. Der Verstand forme gar nichts und verstehe wenig. Der Raum biege und die Zeit dehne sich. Wer eine Gerade zeichne, immer weiter und weiter, erreiche irgendwann wieder ihren Ausgangspunkt. Er zeigte auf die niedrig im Fenster stehende Sonne. Nicht einmal die Strahlen dieses ausbrennenden Sterns kämen auf geraden Linien herab. Die Welt könne notdürftig berechnet werden, aber das heiße noch lange nicht, daß man irgend etwas verstehe.
Humboldt verschränkte die Arme. Erstens, die Sonne brenne nicht aus, sie erneuere ihr Phlogiston und werde in Ewigkeit scheinen. Zweitens, was sei das mit dem Raum? Am Orinoko habe er Ruderer gehabt, die ähnliche Witze gemacht hätten. Er habe das Gefasel nie verstanden. Auch hätten sie oft sinnverwirrende Substanzen eingenommen.
Gauß erkundigte sich, was ein Kammerherr eigentlich zu tun habe.
Verschiedenes, dies und das. Dieser Kammerherr jedenfalls berate den König bei wichtigen Entscheidungen, führe seine Erfahrung ins Feld, wo immer sie von Nutzen sei. Oft werde er bei diplomatischen Gesprächen zu Rate gezogen. Der König wünsche seine Anwesenheit bei fast jeder Abendmahlzeit. Er sei ganz versessen auf Berichte aus der Neuen Welt.
Also werde man fürs Essen und Plaudern bezahlt? Der Sekretär kicherte, wurde blaß und bat um Entschuldigung, er habe Husten.
Die wahren Tyrannen, sagte Eugen in die Stille, seien nicht die Naturgesetze. Es gebe starke Bewegungen im Land, Freiheit sei nicht mehr bloß ein Schillersches Wort.
Bewegungen von Eseln, sagte Gauß.
Er habe sich immer besser mit Goethe verstanden, sagte Humboldt. Schiller sei seinem Bruder näher gewesen.
Von Eseln, sagte Gauß, die es nie zu etwas brächten. Die vielleicht etwas Geld erben würden und einen guten Namen, aber keine Intelligenz.
Sein Bruder, sagte Humboldt, habe erst kürzlich eine tiefsinnige Studie über Schiller verfaßt. Ihm selbst habe Literatur ja nie viel gesagt. Bücher ohne Zahlen beunruhigten ihn. Im Theater habe er sich stets gelangweilt.
Ganz richtig, rief Gauß.
Künstler vergäßen zu leicht ihre Aufgabe: das Vorzeigen dessen, was sei. Künstler hielten Abweichungen für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Stilisierung verfälsche die Welt. Bühnenbilder etwa, die nicht verbergen wollten, daß sie aus Pappe seien, englische Gemälde, deren Hintergrund in Ölsauce verschwimme, Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde.
Abscheulich, sagte Gauß.
Er arbeite an einem Katalog von Pflanzen-und Naturmerkmalen, an welche sich zu halten man die Maler gesetzlich verpflichten müsse. Ähnliches sei für die dramatische Dichtung zu empfehlen. Er denke an Listen der Eigenschaften wichtiger Persönlichkeiten, von denen abzuweichen dann nicht mehr in der Freiheit eines Autors liegen dürfe. Falls Herrn Daguerres Erfindung eines Tages zur Perfektion komme, würden die Künste ohnehin überflüssig.
Der da schreibe Gedichte. Gauß wies mit dem Kinn auf Eugen.
Tatsächlich, fragte Humboldt.
Eugen wurde rot.
Gedichte und dummes Zeug, sagte Gauß. Schon seit der Kindheit. Er zeige sie nicht vor, aber manchmal sei er so blöd, die Zettel herumliegen zu lassen. Ein mieser Wissenschaftler sei er, aber als Literat noch übler.
Sie hätten Glück mit dem Wetter, sagte Humboldt. Letzten Monat habe es viel geregnet. Jetzt könne man auf einen schönen Herbst hoffen.
Der lasse sich nämlich aushalten. Sein Bruder sei wenigstens beim Militär. Der da habe nichts gelernt, könne nichts. Aber Gedichte!
Er studiere die Rechte, sagte Eugen leise. Und dazu Mathematik!
Und wie, sagte Gauß. Ein Mathematiker, der eine Differentialgleichung erst erkenne, wenn sie ihn in den Fuß beiße. Daß ein Studium allein nichts zähle, wisse jeder: Jahrzehntelang habe er in die blöden Gesichter junger Leute starren müssen. Von seinem eigenen Sohn habe er Besseres erwartet. Warum ausgerechnet
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