Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
Professor Bessel empfing Humboldt mit einem Redeschwall, führte sie durch die neue Sternwarte und ließ seinen Gästen die größte Bernsteinkollektion des Landes zeigen.
Humboldt fragte ihn, ob er nicht früher mit Professor Gauß gearbeitet habe.
Der Höhepunkt seines Lebens, sagte Bessel, wenn auch nicht einfach. Von dem Moment, als der Fürst der Mathematiker ihm in Bremen empfohlen habe, die Wissenschaft aufzugeben und Koch zu werden oder Hufschmied, falls das nicht schon zu anspruchsvoll für ihn sei, habe er sich lange nicht erholt. Immerhin habe er noch Glück gehabt, sein Freund Bartels in Petersburg habe es mit diesem Mann schlimmer getroffen. Gegen solche Überlegenheit helfe nur Sympathie.
Auf der Weiterfahrt nach Tilsit war die Straße vereist, mehrmals brachen die Wagen ein. An der russischen Grenze stand ein Kosakentrupp, der angewiesen war, sie zu begleiten.
Das sei wirklich nicht nötig, sagte Humboldt.
Er solle ihm vertrauen, sagte der Kommandant, es sei nötig.
Er habe Jahre ohne Begleitschutz in der Wildnis verbracht!
Dies sei nicht die Wildnis, sagte der Kommandant. Dies sei Rußland.
Vor Dorpat warteten ein Dutzend Journalisten sowie die gesamte naturwissenschaftliche Fakultät. Sofort wollte man ihnen die mineralogischen und botanischen Sammlungen zeigen.
Gern, sagte Humboldt, allerdings sei er nicht der Museen, sondern der Natur wegen hier.
Um die könne sich einstweilen er kümmern, sagte Rose diensteifrig, daran solle es nicht scheitern, dafür sei er ja mitgereist!
Während Rose die Hügel um die Stadt vermaß, führten der Bürgermeister, der Universitätsdekan und zwei Offiziere Humboldt durch eine unwirklich lange Flucht schlecht gelüfteter Zimmer voller Bernsteinproben. In einem der Steine gab es eine Spinne, wie Humboldt noch nie eine gesehen hatte, in einem anderen einen wunderlich geflügelten Skorpion, den man wohl ein Fabelwesen nennen mußte. Humboldt hielt sich den Stein nahe vor die Augen und blinzelte, aber es half nichts, er sah nicht mehr gut. Davon müsse er eine Zeichnung anfertigen!
Selbstverständlich, sagte der plötzlich hinter ihm stehende Ehrenberg, nahm ihm den. Stein aus der Hand und trug ihn weg. Humboldt wollte ihn zurückrufen, aber dann ließ er es. Es hätte seltsam gewirkt vor all den Leuten. Die Zeichnung bekam er nicht, und er sah den Stein nie wieder. Als er Ehrenberg später danach fragte, konnte der sich nicht erinnern.
Sie verließen Dorpat in Richtung Hauptstadt. Ein Kurier der Krone ritt voran, zwei Offiziere hatten sich ihnen angeschlossen, auch drei Professoren sowie ein Geologe der Petersburger Akademie, ein gewisser Wolodin, dessen Anwesenheit Humboldt immer wieder vergaß, so daß er jedesmal zusammenzuckte, wenn Wolodin mit seiner leisen und ruhigen Stimme etwas einwarf. Es war, als widerstünde etwas an diesem blassen Wesen der Fixierung im Gedächtnis oder als beherrschte es in besonderer Perfektion die Kunst der Tarnung. Am Narwa-Fluß mußten sie zwei Tage aufs Nachlassen des Eisgangs warten. Sie waren mittlerweile so zahlreich, daß sie zum Übersetzen die große Fähre brauchten, die nur fahren konnte, wenn der Fluß frei war. So erreichten sie Sankt Petersburg mit Verspätung.
Der preußische Gesandte begleitete Humboldt zur Audienz. Der Zar drückte ihm lange die Hand, versicherte ihm, daß sein Besuch eine Ehre für Rußland sei, und fragte nach Humboldts älterem Bruder, den er vom Kongreß in Wien in deutlicher Erinnerung habe.
In guter?
Nun ja, sagte der Zar, offen gestanden, habe er ihn immer ein wenig gefürchtet.
Jeder europäische Botschafter gab für Humboldt einen Empfang. Mehrmals dinierte er mit der Zarenfamilie. Der Finanzminister, Graf Cancrin, verdoppelte das zugesagte Reisegeld.
Er sei dankbar, sagte Humboldt, wenngleich er mit Wehmut an die Tage denke, als er sich das Reisen noch selbst finanziert habe.
Kein Grund zur Wehmut, sagte Cancrin, er genieße jede Freiheit, und dies, er schob Humboldt ein Blatt hin, sei die bewilligte Route. Er werde unterwegs eskortiert, man erwarte ihn an jeder Station, alle Provinzgouverneure hätten Anweisung, für seine Sicherheit zu sorgen.
Er wisse nicht recht, sagte Humboldt. Er wolle sich frei bewegen. Ein Forscher müsse improvisieren.
Nur wenn er nicht gut geplant habe, wandte Cancrin lächelnd ein. Und dieser Plan, das verspreche er, sei ganz vortrefflich.
Vor der Weiterreise nach Moskau bekam Humboldt nochmals Post: zwei Schreiben vom älteren Bruder, den die Einsamkeit
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