Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
im Grunde immer schon, nur wir beide. Man hat uns früh eingeschärft, daß ein Leben Publikum benötigt. Beide meinten wir, das unsere sei die ganze Welt. Nach und nach wurden die Kreise kleiner, und wir mußten begreifen, daß das eigentliche Ziel unserer Bemühungen nicht der Kosmos, sondern bloß der andere war. Deinetwegen wollte ich Minister werden, meinetwegen mußtest Du auf den höchsten Berg und in die Höhlen, für Dich habe ich die beste Universität erfunden, für mich hast Du Südamerika entdeckt, und nur Dummköpfen, die nicht verstehen, was ein Leben in Verdoppelung bedeutet, würde dafür das Wort Rivalität einfallen: Weil es Dich gab, mußte ich Lehrer eines Staates, weil ich existierte, hattest Du der Erforscher eines Weltteils zu werden, alles andere wäre nicht angemessen gewesen. Und für Angemessenheit hatten wir immer das sicherste Gespür. Ich ersuche Dich, diesen Brief nicht mit dem Rest unserer Korrespondenz auf die Zukunft kommen zu lassen, auch wenn Du, wie Du mir gesagt hast, von der Zukunft nichts mehr hältst.
Der andere Brief war von Gauß. Auch er schickte gute Wünsche sowie einige Formeln für die magnetischen Messungen, von denen Humboldt keine Zeile verstand. Außerdem empfahl er, unterwegs die russische Sprache zu lernen. Er selbst habe, nicht zuletzt eines vor langer Zeit gegebenen Versprechens wegen, damit begonnen. Falls Humboldt einen gewissen Puschkin träfe, möge er nicht unterlassen, ihn seiner Hochachtung zu versichern.
Der Diener kam herein und meldete, es sei alles bereit, die Pferde habe man gefüttert, die Instrumente aufgeladen, in der Morgendämmerung könne es losgehen.
Tatsächlich half das Russische Gauß über den Ärger daheim, das ständige Jammern und die Vorwürfe Minnas, das triste Gesicht seiner Tochter und all die Fragen nach Eugen. Nina hatte ihm zum Abschied das russische Wörterbuch geschenkt: Sie war zu ihrer Schwester nach Ostpreußen gegangen, hatte Göttingen für immer verlassen. Für einen Moment hatte er sich gefragt, ob vielleicht sie, und nicht Johanna, die Frau seines Lebens gewesen war.
Er war milder geworden. In letzter Zeit brachte er es sogar fertig, Minna ohne Abneigung anzusehen. Etwas an ihrem dünnen, ältlichen, stets anklagenden Gesicht würde ihm fehlen, wäre sie einmal nicht mehr da.
Weber schrieb ihm jetzt häufig. Es sah ganz so aus, als ob er bald nach Göttingen käme. Die Professur wurde frei, und Gauß’ Wort hatte Gewicht. Ein Jammer, sagte er zu seiner Tochter, daß du so häßlich bist und er eine Frau hat!
Auf der Rückfahrt von Berlin, als ihm vom Schwanken der Kutsche so schlecht geworden war wie noch nie zuvor im Leben, hatte er sich helfen wollen, indem er das Zittern, Schaukeln und Schlingern bis ins Innerste durchdachte. Nach und nach war es ihm gelungen, sich alle Teile in ihrem Zusammenwirken vorzustellen. Geholfen hatte es kaum, aber ihm war dabei das Prinzip des geringstmöglichen Zwangs klar geworden: Jede Bewegung stimmte so lange mit der des Gesamtsystems überein, wie sie konnte. Sofort nachdem er in den frühen Morgenstunden in Göttingen eingetroffen war, hatte er Weber seine Notizen darüber geschickt, der hatte sie mit klugen Anmerkungen zurückgesandt. In wenigen Monaten würde die Abhandlung erscheinen. So war er nun also Physiker geworden.
Nachmittags machte er lange Spaziergänge durch die Wälder. Inzwischen verirrte er sich nicht mehr, er kannte diese Gegend besser als irgend jemand sonst, schließlich hatte er all dies auf der Karte fixiert. Manchmal war ihm, als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte, war noch oder konnte je sein wie zuvot. Gauß fragte sich, ob Humboldt das begreifen würde. Es begann zu regnen, er stellte sich zum Schutz unter einen Baum. Das Gras zitterte, es roch nach frischer Erde, und er hätte nirgendwo anders sein wollen als hier.
Humboldts Troß kam nicht gut voran. Seine Abreise war in die Zeit der Schneeschmelze gefallen; ein Planungsfehler, wie er ihm früher nicht unterlaufen wäre. Die Kutschen sanken im Lehm ein und kamen ständig von der durchnäßten Straße ab, immer wieder mußten sie anhalten und warten. Die Kolonne war zu lang, sie waren zu viele Menschen. Schon Königsberg erreichten sie später als berechnet.
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