Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
geschwätzig machte. Einen langen Brief von Bessel. Und eine Karte des tief in Magnetexperimente versunkenen Gauß. Er nehme die Sache jetzt ernst, er habe eigens eine fensterlose Hütte errichten lassen, die Tür luftdicht, die Nägel aus nicht magnetisierbarem Kupfer.
Zunächst hatten die Stadträte ihn für verrückt gehalten. Aber Gauß hatte sie so lange beschimpft, hatte gedroht und gejammert und ihnen völlig erfundene Vorteile für Handel, Staatsrenommee und Wirtschaft in Aussicht gestellt, daß sie schließlich zugestimmt und die Hütte neben der Sternwarte gebaut hatten. Nun verbrachte er den Großteil seiner Tage vor einer langen, in einer Verstärkerspule pendelnden Eisennadel. Ihre Bewegung war so schwach, daß man sie mit freiem Auge nicht sah; man mußte ein Fernrohr auf einen über der Nadel angebrachten Spiegel richten, um die feinen Schwankungen der beweglichen Skala zu sehen. Humboldts Vermutung traf zu: Das Erdfeld fluktuierte, seine Stärke änderte sich periodisch. Aber Gauß maß in kürzeren Intervallen als er, er maß genauer, und natürlich rechnete er besser; es belustigte ihn, daß Humboldt entgangen war, daß man die Dehnung des Fadens berücksichtigen mußte, an dem die Nadel hing.
Stundenlang beobachtete Gauß beim Licht einer Öllampe dieses Pendeln. Kein Laut drang zu ihm herein. So wie ihm damals die Ballonfahrt mit Pilâtre gezeigt hatte, was der Raum war, würde er jetzt irgendwann die Unruhe im Herzen der Natur verstehen. Man brauchte nicht auf Berge zu klettern oder sich durch den Dschungel zu quälen. Wer diese Nadel beobachtete, sah ins Innere der Welt. Manchmal schweiften seine Gedanken zur Familie ab. Eugen fehlte ihm, und Minna ging es schlecht, seit er weg war. Sein Jüngster würde bald mit der Schule fertig sein. Auch der war nicht besonders intelligent, er würde wohl nicht studieren. Man mußte sich damit abfinden, man durfte die Menschen nicht überschätzen. Wenigstens verstand er sich mit Weber immer besser, und erst vor kurzem hatte ein. russischer Mathematiker ihm eine Abhandlung geschickt, in der die Vermutung geäußert wurde, daß Euklids Geometrie nicht die wahre sei und parallele Linien einander berührten. Seit er zurückgeschrieben hatte, daß ihm keiner dieser Gedanken neu war, hielt man ihn in Rußland für einen Angeber. Bei dem Gedanken, daß andere bekanntmachen würden, was er so lange schon wußte, fühlte er ein ungewohntes Stechen. So alt hatte er also werden müssen, um zu lernen, was Ehrgeiz war. Hin und wieder, wenn er die Nadel anstarrte und nicht zu atmen wagte, um ihren lautlosen Tanz nicht zu stören, kam er sich wie ein Magier der dunklen Zeit vor, wie ein Alchimist auf einem alten Kupferstich. Aber warum nicht? Die Scientia Nova war aus der Magie hervorgegangen, und etwas davon würde ihr immer anhaften.
Vorsichtig faltete er die Karte Rußlands auseinander. Man mußte Hütten wie diese über die Leere Sibiriens verteilen, bewohnt von zuverlässigen Männern, die es verstanden, auf Geräte zu achten, Stunden um Stunden vor Teleskopen zu verbringen und ein stilles, aufmerksames Leben zu fuhren. Humboldt konnte organisieren; vermutlich sogar das. Gauß dachte nach. Als er mit der Liste der geeigneten Standorte fertig war, riß sein jüngster Sohn die Tür auf und brachte einen Brief. Wind schoß herein, Blätter flogen durch die Luft, die Nadel schlug panisch aus, und Gauß gab dem Kleinen zwei Ohrfeigen, die er nicht so bald vergessen würde. Erst nach einer halben Stunde des StÜlsitzens und Wartens hatte sich der Kompaß soweit beruhigt, daß Gauß es wagte, sich zu bewegen und den Brief zu öffnen. Man müsse die Pläne ändern, schrieb Humboldt, er könne nicht, wie er wolle, man habe ihm eine Route vorgeschrieben, von der abzuweichen ihm nicht vernünftig erscheine, auf ihr könne er messen, anderswo nicht, und er ersuche, die Berechnungen anzupassen. Gauß legte traurig lächelnd den Brief weg. Zum erstenmal tat Humboldt ihm leid.
In Moskau stockte alles. Es sei ganz unmöglich, sagte der Bürgermeister, daß sein Ehrengast schon weiterfahre. Günstige Jahreszeit hin oder her, die Gesellschaft erwarte ihn, er könne unmöglich Moskau versagen, was er Petersburg gewährt habe. Also mußte Humboldt auch hier jeden Abend, während Rose und Ehrenberg in der Umgebung Steinproben sammelten, ein Diner besuchen; Toasts wurden ausgebracht, Frackträger riefen gläserschwenkend Vivat, und Blasmusiker ließen verstimmte Instrumente schmettern,
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