Middlesex
Sie zog eine Schale heraus und schüttelte sie, sie zog noch eine heraus, und genau da spürte sie, wie ihr Herz stehen blieb, sich zu einer Kugel zusammenpresste und sie von innen boxte. Sie ließ die Schale fallen, sah, wie ihr Kasack, aufgebauscht von einer inneren Kraft, flatterte, und begriff, dass ihr Herz nach seinen eigenen Regeln schlug, dass sie keine Macht darüber hatte, genauso wenig wie über irgendetwas anderes.
Und so stand meine jiajia, während sie die erste ihrer eingebildeten Leiden hatte, da und blickte auf Bursa hinab, als fände sie dort eine sichtbare Bestätigung ihrer unsichtbaren Furcht. Und schon drang es aus dem Haus heraus, mittels Schall: Ihr Bruder, Eleutherios (»Lefty«) Stephanides, hatte zu singen angefangen. In schlecht ausgesprochenem Englisch ohne jeden Sinn:
»Jed'n Morgen, jed'n Abend ham wir unsern Spaß«, sang Lefty, und er stand wie jeden Nachmittag um diese Zeit vor ihrer beider Schlafzimmerspiegel, befestigte den neuen Zelluloidkragen an dem neuen weißen Hemd, quetschte sich einen Klacks Pomade (mit Limonenaroma) auf die Hand und rieb sie in seine neue Va lentinofrisur. »Und dazwischen, und dazwischen ham wir unsern Spaß.« Der Text bedeutete ihm nichts, was zählte, war die Melodie. Sie kündete Lefty von der Frivolität des Jazz-Zeitalters, von Gin-Cocktails, Zigarettenmädchen; beschwingt von ihr, striegelte er sich das Haar mit großer Gebärde nach hinten... während draußen im Garten Desdemona den Gesang hörte und auf ganz andere Gedanken kam. Für sie beschwor das Lied nur die anrüchigen Bars, die ihr Bruder unten in der Stadt aufsuchte, die Haschhöhlen, in denen sie Remb etika- und amerikanische Musik spielten und wo es lose Frauen gab, die sangen... und Lefty zog seinen neuen gestreiften Anzug an und faltete das rote Taschentuch, das zu seiner roten Krawatte passte... und ihr war seltsam zumute, besonders im Magen, der von vertrackten Emotionen aufgewühlt war, von Trauer, Ärger und noch etwas anderem, das sie nicht benennen konnte und das am meisten wehtat. »Die Miete nicht bezahlt, mein Schatz, ein Auto ham wir nicht«, schnulzte Lefty in dem angenehmen Tenor, den ich später erben sollte, und hinter der Musik hörte Desdemona nun wieder die Stimme ihrer Mutter, Euphrosyne Stephanides' letzte Worte, kurz bevor sie an der Schusswunde starb: »Gib Acht auf Lefty. Versprich's mir. Such ihm eine Frau!«... und hörte, wie sie unter Tränen geantwortet hatte: »Ich versprech's dir. Ich versprech's!«... diese Stimmen sprachen alle gleichzeitig in Desdemonas Kopf, als sie durch den Garten zum Haus ging. Sie kam durch die kleine Küche, wo das Mittagessen (für einen) köchelte, und marschierte geradewegs ins Schlafzimmer, das sie mit ihrem Bruder teilte. Er sang noch immer - »Nicht viel Geld, ach, aber Liebling« -, brachte die Manschettenknöpfe an, zog sich einen Scheitel, blickte dann jedoch auf und sah seine Schwester - »was ham wir unsern« nun pianissimo - »Spaß« - und verstummte.
Einen Augenblick lang erfasste der Spiegel ihre beiden Gesichter. Mit einundzwanzig, lange vor dem schlecht sitzenden Gebiss und den selbst auferlegten Gebrechen, war meine Großmutter durchaus eine Schönheit. Sie trug das schwarze Haar in langen Zöpfen, die sie unter ihrem Kopftuch festgesteckt hatte. Diese Zöpfe waren nicht zart wie bei einem kleinen Mädchen, sondern schwer und fraulich, und sie besaßen eine natürliche Kraft wie ein Biberschwanz. Jahre, Jahreszeiten und Witterungen hatten in den Zöpfen Spuren hinterlassen, und wenn sie sie nachts löste, fielen sie ihr bis auf die Taille. Jetzt waren die Zöpfe mit schwarzem Seidenband umwickelt, was sie noch eindrucksvoller machte, vorausgesetzt, man bekam sie zu sehen, was nur wenigen gelang. Für die Öffentlichkeit bestimmt war Desdemonas Gesicht: ihre großen, trauervollen Augen, ihr blasser, kerzenbeschienener Teint. Erwähnen sollte ich, mit dem rudimentären Schmerz eines einstmals flachbrüstigen Mädchens, auch Desdemonas üppige Figur. Ihr Körper war ihr ein stetiger Anlass zu Verlegenheit. Immerzu teilte er sich in einer Weise mit, die sie nicht guthieß. Wenn sie in der Kirche niederkniete, wenn sie im Garten Teppich klopfte, wenn sie unterm Pfirsichbaum die Früchte aufsammelte, entkamen Desdemonas weibliche Rundungen den Zwängen ihrer graubraunen, einschnürenden Kleidung. Oberhalb ihres schlenkernden Körpers blieb ihr kopftuchgerahmtes Gesicht für sich, schien darüber, was sich ihre
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