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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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oder ein Mädchen wird. Mein Vater ist guten Mutes. Vierundzwanzig Stunden nach dem Akt stieg die Körpertemperatur meiner Mutter um weitere zwei Zehntel, was den Eisprung bestätigte. Zu diesem Zeitpunkt hatte das männliche Sperma schon erschöpft aufgegeben. Das weibliche gewann das Rennen, wie die Schnecke. (Da gab Tessie Milton das Thermome ter zurück und sagte, sie wolle es nie mehr sehen.)
    Das alles führte zu dem Tag, an dem Desdemona ein Essgerät über dem Bauch meiner Mutter baumeln ließ. Damals gab es noch keinen Ultraschall; der Löffel tat es auch. Desdemona kauerte sich hin. In der Küche wurde es still. Die anderen Frauen kauten auf der Unterlippe, schauten, warteten. Während der ersten Minute rührte sich der Löffel gar nicht. Desdemonas Hand zitterte, und nachdem lange Sekunden vergangen waren, hielt Tante Lina die Hand fest. Der Löffel drehte sich, ich trat; meine Mutter schrie auf. Und dann, langsam, von einem Wind getrieben, den niemand spürte, begann der Silberlöffel sich auf jene schauerliche paraphysische Weise zu bewegen, zu schwingen, erst in einem kleinen Kreis, doch von Mal zu Mal wurde die Bahn ein wenig elliptischer, bis sie sich zu einer geraden Linie abflachte, die vom Herd zur Küchenbank wies. Mit anderen Worten, von Nord nach Süd. Desdemona rief: »Kouros!« Und im Raum gellten die Schreie »kouros, kouros« .
    In jener Nacht sagte mein Vater: »Dreiundzwanzig hintereinander bedeutet, sie fordert das Schicksal heraus. Diesmal liegt sie falsch. Vertrau mir.«
    »Es macht mir nichts, wenn's ein Junge wird«, sagte meine Mutter. »Wirklich nicht. Solange es gesund ist, zehn Finger, zehn Zehen.«
    »Was soll dieses ›es‹. Du redest von meiner Tochter.«
    Eine Woche nach Neujahr, am 8. Januar 1960, kam ich zur Welt. Mein Vater, der nur Zigarren mit rosa Bauchbinde dabei hatte, schrie im Warteraum: »Bingo!« Ich war ein Mädchen. Achtundvierzig Zentimeter groß. Dreitausenddreihundertzehn Gramm.
    Am selben 8. Januar erlitt mein Großvater den ersten seiner dreizehn Schlaganfälle. Aufgeweckt von meinen Eltern, die ins Krankenhaus eilten, war er aufgestanden und nach unten gegangen, um sich eine Tasse Kaffee zu kochen. Eine Stunde später fand Desdemona ihn auf dem Küchenboden. Zwar blieben an jenem Morgen, als ich in der Frauenklinik meinen ersten Schrei ausstieß, seine Geisteskräfte intakt, doch verlor mein papou sein Sprachvermögen. Desdemona zufolge war mein Großvater zusammengebrochen, kurz nachdem er die Tasse umgestülpt hatte, um im Kaffeesatz seine Zukunft zu lesen.
    Als Onkel Pete von meinem Geschlecht erfuhr, wollte er nicht, dass man ihm gratulierte. Zauberei sei nicht im Spiel gewesen, »und außerdem«, witzelte er, »hat ja Milt die ganze Arbeit gemacht«. Desdemona verbitterte das. Ihr in Amerika geborener Sohn hatte Recht behalten, und mit dieser Niederlage wich das alte Land, in dem sie noch immer zu leben versuchte, obwohl es siebentausend Kilometer und achtunddreißig Jahre entfernt war, um eine weitere Stufe zurück. Meine Geburt markierte das Ende ihres Babyratens und den Beginn des langwierigen Verfalls ihres Mannes. Auch wenn die Seidenraupenkiste noch ab und zu auftauchte, befand sich der Löffel nicht mehr unter den Schätzen.
    Ich wurde herausgezogen, auf den Hintern geklapst und abgespritzt, in dieser Reihenfolge. Man wickelte mich in eine Decke und zeigte mich zusammen mit sechs weiteren Neugeborenen her, vier Jungen und zwei Mädchen, sie alle, anders als ich, zutreffend etikettiert. Es kann nicht stimmen, aber ich erinnere mich daran: Funken, die langsam eine dunkle Leinwand füllen.
    Jemand hatte meine Augen angeknipst.

EHESTIFTEN
    Wenn diese Geschichte in die Welt hinausgeht, könnte ich zum berühmtesten Hermaphroditen aller Zeiten werden. Vor mir hat es schon andere gegeben. Alexina Barbin besuchte ein Mädcheninternat in Frankreich, bevor sie zu Abel wurde. Sie hinterließ eine Autobiographie, die Michel Foucault im Archiv des französischen Gesundheitsministeriums entdeckte. (Ihre Memoiren, die kurz vor ihrem Selbstmord enden, geben eine unbefriedigende Lektüre ab, und nachdem ich sie vor Jahren durchgelesen hatte, kam ich auf die Idee, selbst eine zu schreiben.) Gottlieb Göttlich, geboren 1798, lebte bis zum Alter von dreiunddreißig Jahren als Marie Rosine. Eines Tages ging Marie mit Unterleibsschmerzen zum Arzt. Der untersuchte sie auf einen Eingeweidebruch und fand stattdessen nicht abgestiegene Hoden. Von da an zog Marie

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