Middlesex
Brüste und Hüften herausnahmen, leicht empört.
Eleutherios war größer und schmaler. Auf Fotografien aus jener Zeit sieht er aus wie eine jener Unterweltgestalten, die er verehrte, die Diebe und Spieler mit dem dünnen Oberlippen bärtchen, die sich in den Hafenspelunken von Athen und Konstantinopel breit machten. Seine Nase war gebogen, seine Augen scharf, der Gesamteindruck seines Gesichts der eines Falken. Erst wenn er lächelte, sah man die Sanftheit seines Blicks, der klarstellte, dass Lefty in Wahrheit gar kein Gangster war, sondern der gehätschelte, büchernärrische Sohn gut situierter Eltern.
An jenem Sommernachmittag des Jahres 1922 galt Desdemonas Aufmerksamkeit nicht dem Gesicht ihres Bruders. Vielmehr wanderten ihre Blicke über seine Anzugjacke, das schimmernde Haar, die gestreifte Hose, wobei sie zu ergründen suchte, was während der letzten Monate mit ihm geschehen war.
Lefty war ein Jahr jünger als Desdemona, und sie fragte sich häufig, wie sie jene ersten zwölf Monate ohne ihn überstanden hatte. Denn so lange sie sich erinnern konnte, war er immer auf der anderen Seite der Ziegenhaardecke gewesen, die ihre Betten trennte. Hinter dem kelimi führte er Marionettenspiele auf, verwandelte seine Hände in den schlauen, buckligen Karagiozis, der stets die Türken übertölpelte. Da im Dunkeln erfand er Reime und trällerte Lieder, und seine neue amerikanische Musik verabscheute sie nicht zuletzt deshalb, weil er sie ausschließlich für sich selber sang. Desdemona hatte ihren Bruder immer so geliebt, wie nur eine Schwester, die auf einem Berg aufwuchs, ihren Bruder lieben konnte: Er war ihre einzige Zerstreuung, ihr bester Freund und Vertrauter, der Mitentdecker von Abkürzungen und Mönchszellen. Schon sehr früh war die Seelenverwandtschaft, die sie für Lefty empfand, so absolut gewesen, dass sie manchmal vergaß, nicht mit ihm eins zu sein. Als Kinder waren sie den terrassierten Berghang wie ein vierbeiniges, zweiköpfiges Wesen hinuntergetollt. Sie war an ihren siamesischen Schatten, der abends an den weiß getünchten Hauswänden hochsprang, gewöhnt, und wenn sie einmal nur dem ihren begegnete, kam er ihr wie halbiert vor.
Die Friedenszeit schien alles zu verändern. Lefty hatte sich die neuen Freiheiten zunutze gemacht. Im vergangenen Monat war er insgesamt siebzehnmal nach Bursa hinuntergegangen.
Dreimal hatte er im Gasthaus zum Kokon gegenüber der Sultan-Orhan-Moschee übernachtet. Einmal war er am Vormittag in Stiefeln, Kniestrümpfen, Kniebundhose, doulamas und Weste losgezogen und am Abend des folgenden Tages in gestreiftem Anzug, ein Seidentuch im Kragen wie ein Opernsänger, und mit einem schwarzen Homburg auf dem Kopf zurückgekommen. Auch anderes veränderte sich. Er hatte angefangen, sich mit Hilfe eines kleinen pflaumenfarbenen Sprachführers Französisch beizubringen. Er hatte affektierte Gebärden angenommen, beispielsweise die Hände in die Hosentaschen zu schieben und mit dem Kleingeld zu klimpern oder die Mütze zu lüften. Wenn Desdemona Wäsche wusch, fand sie Papierschnipsel in Leftys Taschen, überzogen mit mathematischen Zahlen. Seine Kleidung roch nach Moschus, nach Rauch und manchmal süß.
Jetzt, im Spiegel, konnten ihre Gesichter nicht verbergen, dass mehr und mehr sie trennte. Und meine Großmutter, deren naturgegebene Düsternis sich zu einem wahren Herzgewitter ausgewachsen hatte, sah ihren Bruder an wie früher ihren Schatten und spürte, dass etwas fehlte.
»Wo gehst du in dem Anzug hin?«
»Was glaubst du wohl? Zum Koza Han. Kokons verkaufen.«
»Da warst du doch erst gestern.«
»Ist eben Saison.«
Mit einem Schildpattkamm scheitelte sich Lefty rechts die Haare, gab mehr Pomade auf eine widerspenstige Locke, die nicht anliegen wollte.
Desdemona trat näher heran. Sie nahm die Pomade und roch daran. Das war nicht der Geruch seiner Kleidung. »Was machst du da unten noch?«
»Nichts.«
»Manchmal bleibst du über Nacht.«
»Der Weg ist weit. Wenn ich ankomme, ist es schon spät.«
»Was rauchst du in den Bars?«
»Was eben in der Huka ist. Es gehört sich nicht zu fragen.«
»Wenn Vater und Mutter wüssten, dass du so rauchst und trinkst...« Sie verstummte.
»Sie wissen es aber nicht, ja?«, sagte Lefty. »Also, was soll's.« Sein unbeschwerter Ton überzeugte sie nicht. Lefty benahm sich, als hätte er den Tod der Eltern verwunden, doch Desdemona durchschaute das. Sie lächelte ihren Bruder grimmig an und hielt ihm, ohne etwas dazu zu
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