Middlesex
mit ihrem Bauch vor dem Gesicht herumwackelt? Mit einem Edelstein auf ihrem fetten Bauch? Willst du so eine? Ich will dir mal was sagen. Weißt du, warum türkische Mädchen sich das Gesicht bedecken? Du glaubst, es ist wegen ihrer Religion? Nein. Sie tun das, weil sonst niemand ihren Anblick ertragen könnte!«
Und nun schrie sie: »Schäm dich, Eleutherios! Was ist bloß los mit dir? Warum nimmst du dir kein Mädchen aus dem Dorf?«
Da lenkte Lefty, der sich gerade die Jacke abbürstete, die Aufmerksamkeit seiner Schwester auf etwas, was sie ganz offensichtlich übersah. »Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen«, sagte er, »aber in diesem Dorf gibt's keine Mädchen.«
Was weitgehend stimmte. Bithynios war nie ein großes Dorf gewesen, aber 1922 war es kleiner denn je. 1913, als die Reblausplage die Rosinen vernichtet hatte, hatte die Abwanderung begonnen. Während der Balkankriege waren noch mehr gegangen. Leftys und Desdemonas Cousine Sourmelina hatte es nach Amerika verschlagen, und nun lebte sie in einem Ort namens Detroit. An einen sanften Hang des Berges gebaut, war Bithynios kein Gebirgsdorf am Abgrund. Es war eine elegante, zumindest harmonische Ansammlung gelber Stuckhäuser mit roten Dächern. Die prächtigsten Häuser, von denen es zwei gab, hatten fikma, geschlossene Erker, die über die Straße hinausragten. Die ärmsten Häuser, von denen es viele gab, waren im Wesentlichen Einzimmerküchen. Und dann gab es noch Häuser wie das von Desdemona und Lefty, mit einem voll gestellten Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern, einer Küche und einem Klohäuschen im Garten mit einer europäischen Toilette. Geschäfte gab es in Bithynios keine, auch keine Post und keine Bank, nur eine Kirche und eine einzige Taverne. Zum Einkaufen musste man nach Bursa, das erste Stück zu Fuß und dann weiter mit der Pferdestraßenbahn.
1922 wohnten kaum hundert Menschen in dem Dorf. Weniger als die Hälfte davon waren Frauen. Von siebenundvierzig Frauen waren einundzwanzig alt. Weitere zwanzig waren mittelalte Ehefrauen. Drei waren junge Mütter, jede mit einer Tochter in Windeln. Eine war seine Schwester. Blieben zwei heiratsfähige Mädchen. Die Desdemona nun eilends aufzählte.
»Wieso sollte es hier keine Mädchen geben? Was ist mit Lucille Kafkaiis? Das ist ein nettes Mädchen. Oder Victoria Pappas?«
»Lucille riecht«, antwortete Lefty sachlich. »Sie badet vielleicht einmal im Jahr. An ihrem Namenstag. Und Victoria?« Er strich sich mit dem Finger über die Oberlippe. »Victoria hat einen Bart, der größer ist als meiner. Ich will mit meiner Frau nicht das Rasiermesser teilen.« Und er legte die Kleiderbürste hin und zog sich die Jacke an. »Warte nicht auf mich«, sagte er und verließ das Schlafzimmer.
»Geh doch!«, rief Desdemona ihm nach. »Macht mir doch nichts aus. Aber denk dran. Wenn deine türkische Frau die Maske abnimmt, komm mir nicht ins Dorf zurückgelaufen!«
Doch Lefty war schon weg. Seine Schritte verhallten. Desde mona spürte, wie das rätselhafte Gift in ihrem Blut wieder zu wirken begann. Sie achtete nicht darauf. »Ich esse nicht gern allein!«, schrie sie, zu niemandem.
Der Wind vom Tal hatte aufgefrischt, wie jeden Nachmittag. Er wehte durch die offenen Fenster ins Haus. Er rüttelte am Riegel ihrer Aussteuertruhe und den alten Betperlen ihres Vaters, die darauflagen. Desdemo na nahm die Perlen. Eine nach der andern ließ sie sie durch die Finger gleiten, genau wie ihr Vater es getan hatte und ihr Großvater und ihr Urgroßvater, vollzog ein Familienerbe präzisen, kodifizierten, gründlichen Betens. Während die Perlen gegeneinander klackten, gab sich Desdemona ihnen hin. Was war nur los mit Gott? Warum hatte Er ihr die Eltern genommen und ihr die Sorge um ihren Bruder überlassen? Was sollte sie nur mit ihm machen? »Rauchen, Trinken und nun noch Schlimmeres! Und woher hat er das ganze Geld für seine Torheiten? Von meinen Kokons nämlich!« Jede Perle, die durch ihre Finger glitt, war ein festgehaltener und losgelassener Groll. Desdemona mit ihren traurigen Augen und dem Gesicht eines Mädchens, das zu schnell hatte erwachsen werden müssen, betete mit ihren Perlen wie alle Stephanides-Männer vor und nach ihr (bis hin zu mir, falls ich dazu zähle).
Sie trat ans Fenster und streckte den Kopf hinaus, hörte den Wind in den Pinien und der Weißbirke rauschen. Sie zählte weiter ihre Betperlen, und ganz allmählich taten sie ihre Pflicht. Es ging ihr besser. Sie beschloss, sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher