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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Männersachen an, nannte sich Gottlieb und machte ein Vermögen damit, in Europa herumzureisen und sich Medizinern vorzustellen.
    In den Augen der Ärzte bin ich sogar noch besser als Gottlieb. Da fetale Hormone die Gehirnchemie und -histologie beeinflussen, habe ich nämlich ein männliches Gehirn. Aber ich wurde als Mädchen erzogen. Wollte man sich ein Experiment ausdenken, mit dem man die jeweiligen Einflüsse von Angeborenem oder Erworbenem messen kann, hätte man kein besseres Objekt als mein Leben. Während meines Klinikaufenthaltes vor nahezu drei Jahrzehnten unterzog mich Dr. Luce einem wahren Hagel von Tests. Ich machte den Benton Visual Retention Test und den Bender Visual-Motor Gestalt Test. Mein Sprach-IQ wurde getestet und noch vieles andere mehr. Sogar meinen Schreibstil analysierte Luce, um zu sehen, ob ich linear, also männlich, oder zirkulär und mithin weiblich schrieb.
    Ich weiß nur eines: Trotz meines androgynisierten Gehirns liegt der Geschichte, die ich zu erzählen habe, eine natürliche weibliche Zirkularität zugrunde. Wie jeder Geschichte, die mit Genen zu tun hat. Ich bin das letzte Glied in einem periodischen Satz, und dieser Satz beginnt vor langer Zeit, in einer anderen Sprache, und man muss ihn vom Anfang lesen, um ans Ende zu gelangen, meiner Geburt.
    Und nachdem ich nun also geboren bin, spule ich den Film zurück, sodass meine rosa Decke davonfliegt, mein Bettchen über den Fußboden saust, meine Nabelschnur sich wieder ansetzt und ich aufschreie, während ich zwischen die Beine meiner Mutter gezogen werde. Sie wird wieder richtig dick. Dann noch etwas weiter zurück, wo ein Löffel aufhört zu schwingen und ein Thermometer in sein Samtkästchen gelegt wird. Der Sputnik jagt auf seinem Raketenschweif zurück zu seiner Abschussrampe, und die Kinderlähmung zieht durchs Land. Es folgt eine kurze Sequenz von meinem Vater als zwanzigjährigem Klarinettisten, der gerade ein Stück von Artie Shaw ins Telefon spielt, dann ist er in der Kirche, mit acht, wo er sich über den Preis der Kerzen empört, und als Nächstes nimmt mein Großvater 1931 seinen ersten Dollarschein über einer Registrierkasse von der Wand. Dann sind wir nicht mehr in Amerika; wir sind mitten auf dem Ozean, die Tonspur klingt komisch im Rückwärtslauf. Ein Dampfschiff wird sichtbar, und auf Deck schaukelt ein Rettungsboot ganz seltsam, doch schon dockt das Schiff an, mit dem Heck voraus, und wir sind wieder auf festem Boden, wo die Filmrolle abgespult ist, wir sind am Anfang...
    IM SPÄTSOMMER 1922 sagte meine Großmutter Desdemona Stephanides keine Geburten, sondern Todesfälle voraus, in erster Linie ihren eigenen. Sie war bei ihren Seidenraupen hoch oben am Hang des kleinasiatischen Olymp, als ihr Herz ohne Vorwarnung einen Schlag aussetzte. Es war ein eindeutiges Gefühl: Sie spürte, wie ihr Herz stehen blieb und sich zu einer Kugel zusammenpresste. Dann, als sie erstarrte, fing es an zu rasen, hämmerte gegen die Rippen. Sie stieß einen kleinen, erstaunten Schrei aus. Ihre zwanzigtausend Seidenraupen, die auf menschliche Emotionen empfindlich reagierten, stellten ihr Kokonspinnen ein. In dem trüben Licht kniff meine Großmutter die Augen zusammen, blickte an sich hinab und sah die Vorderseite ihres Kasacks merklich flattern; in dem Augenblick erkannte sie den Aufruhr in sich und wurde zu dem, was sie ihr weiteres Leben lang blieb: ein kranker Mensch, der in einem gesunden Körper gefangen ist. Trotzdem trat sie, außerstande, an ihr Fortbestehen zu glauben, und obwohl ihr Herz sich schon wieder beruhigt hatte, hinaus aus der Züchterei, um einen letzten Blick auf die Welt zu werfen, die sie für weitere achtundfünfzig lahre nicht verlassen sollte.
    Der Blick war beeindruckend. Dreihundert Meter unter ihr lag Bursa, die alte Hauptstadt der Osmanen, ausgebreitet wie ein Backgammonbrett auf dem grünen Filz des Tals. Rote Dachziegelrauten fügten sich in Rauten aus weißer Tünche. Hier und da waren die Sultansgräber wie bunte Spielmarken aufgestapelt. Damals, 1922, verstopfte der Automobilverkehr noch nicht die Straßen. Skilifte hatten noch keine Schneisen in die Pinienwälder des Berges geschnitten. Noch säumten keine Hüttenwerke und Textilbetriebe die Stadt, füllten die Luft noch nicht mit Smog. Bursa war - wenigstens aus dreihundert Meter Höhe - ziemlich unverändert das, was es während der vergangenen sechs Jahrhunderte gewesen war, eine heilige Stadt, die Nekropolis der Osmanen und das Zentrum des

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