Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
schwiegerelterliche Haus unter den Nagel gerissen.
Die jüngere Tochter von Frau Käfer findet alles furchtbar, besonders dieses ekelhaft habgierige Verhalten ihrer Schwägerin und ihres Bruders. Sie fühlt sich um ihren Erbteil betrogen. Ihr Mann sage das auch immer. Was die Einwilligung zur Magensonde angeht, sagt ihr Mann immer – auch als Christ –: »Jeder Tag, den die Oma noch lebt, ist kostbar, und diesen Eingriff zu verweigern ist eine Versündigung am Leben.«
Am nächsten Tag gibt Herr Käfer in der Klinik sein Einverständnis zu dem Eingriff. Einige Zeit später wird die Patientin wieder in die häusliche Pflege der Schwiegertochter entlassen, wo sie nach weiteren zwei Jahren stirbt.
Handlungsmöglichkeiten im Sinne des intentionalen, gestaltenden Handelns verlieren sich nicht nur für Sterbende, sondern auch für Familienangehörige, die sich angesichts von Sterben und Tod als ohnmächtig erleben und dies oft als den Kernpunkt ihres Leids ansehen.
Allzu verständlich daher, dass Handlungsoptionen so lange wie möglich aufrechterhalten werden (bis zuletzt!), etwa durch Zustimmung zur Magensonde. Ein Verzicht auf solche letzten Gestaltungsmöglichkeiten wird als Schuld erlebt. Man macht sich an der Tötung eines Familienangehörigen durch Nichtstun mitschuldig. Hier verbinden sich die Schuldvermeidungsüberlegungen von Familienangehörigen mit dem Gestaltungswillen oder den »pragmatischen Notwendigkeiten« des medizinischen Systems. Es geht dann letztlich um die Frage: Wer wird sich schuldig machen, bzw. wer wird von wem schuldig gesprochen, und wer lässt die Frau/Mutter/Schwiegermutter töten bzw. verhindert deren Tötung?
Hoffentlich gesund oder: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!
Bisher haben wir die Mechanismen betrachtet, wie miese Stimmung erzeugt werden kann, indem die Hoffnung Handlungsenergien bereitstellt, wenn man krank ist. Durch entsprechende Maßnahmen hofft man wieder gesund zu werden oder glaubt hoffnungsvoll, Krankheiten verhindern zu können.
Eine geradezu epidemisch verbreitete Hoffnung, die letztlich zu schlechter Stimmung führt, ist die Hoffnung, gesund zu sein und zu bleiben. Diese Hoffnung zielt darauf ab, sich immer wieder Gewissheit verschaffen zu können, dass man (noch) gesund ist. Ein Ziel, das umfangreiche und komplizierte Prozeduren auslöst. Die Folge: Miese Stimmung!
Das Problem: Hoffnung auf etwas, was es nicht gibt. Gesundheit ist keine sichere Diagnose! Die Tatsache, dass jemand (wahrscheinlich!) gesund ist, merkt derjenige gerade daran, dass er nichts merkt. Man merkt allenfalls, dass man nicht mehr gesund ist, wenn einem etwas fehlt (Appetit) oder etwas da ist, was nicht da sein sollte (Fieber).
Schauen wir uns ein Beispiel dazu an.
Die Stimmung von Herrn Heimann verschlechtert sich seit Jahren, und er fühlt sich in seiner Lebensqualität und seiner Lebensgestaltung massiv beeinträchtigt. Inzwischen sind nicht nur er selbst, sondern auch seine Familie, die Beziehung zu Freunden und auch sein Arbeitsalltag davon betroffen. Sein Problem: Er ist sich nicht sicher, ob er gesund ist, hat aber die unerschütterliche Hoffnung, es herauszufinden. Die Mittel dazu sind unermüdlich durchgeführte ständige Kontrolluntersuchungen. Einen Teil dieser Untersuchungen führt er selbst durch. Er beobachtet, meist mehrmals täglich, mögliche Veränderungen an und in seinem Körper. Da ein lebendiger Körper einem sorgfältig kontrollierenden Beobachter jederzeit Veränderungen anbieten kann, wird Herr Heimann auch fast immer fündig. Kleine Hautveränderungen führen dann zu befürchteten Gewissheiten: Aha! Ein malignes Melanom. Jetzt ist der Ofen aus! Er gerät verständlicherweise in Panik, die ihn über längere Zeit so in Beschlag nimmt, dass für anderes keine Zeit und keine Energie mehr da ist. Herr Heimann steht für seine Familie, für seine Arbeit, ja sogar für seine Freizeit nicht mehr zur Verfügung. Man schätzt, dass etwa 10% der Menschen auf Dauer arbeitsunfähig sind, da sie mit nichts anderem mehr beschäftigt sind als mit ihrer Gesundheit. In diese kontrollierenden diagnostischen Prozeduren werden bei Herrn Heimann seit einiger Zeit auch andere einbezogen. Seine Frau und inzwischen auch seine Kinder werden als Hilfsdiagnostiker genötigt, ihm zu Diensten zu sein in der Hoffnung, dadurch den Grad der Gesundheitsgewissheit zu erhöhen. Das Ergebnis: Er vertraut seinem Körper und den anderen umso weniger, je mehr Untersuchungen stattfinden und je
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