Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
geschäftliche Probleme der Branche geklagt.
Im Morgengrauen des 22. April 2009 erhängt sich der 41-jährige geschäftsführende Finanzvorstand des notverstaatlichten Immobilienfinanziers Freddy Mac im Keller seines Hauses mit einem Sprungseil. In der Profilbeschreibung seiner Website ist zu lesen: »Meine Definition von Erfolg ist die volle Nutzung meiner Erfahrung und meiner Fähigkeiten und jene eines umsichtig ausgewählten und geschulten Teams im Streben nach Vorzüglichkeit.« [54] Das Unternehmen Freddy Mac besaß oder garantierte 13 Millionen Hypothekenverträge und war wegen seiner hochriskanten Geschäfte in den Verdacht kriminellen oder mindestens fahrlässigen Geschäftsgebarens geraten. Freddie Mac, mit dem Schwesterunternehmen Fannie Mae die größte Hypothekenbank der USA, wies 2008 Verluste in Höhe von 50 Milliarden Dollar aus. Das Unternehmen stand vor dem Kollaps – und Millionen amerikanischer Hausbesitzer vor Chaos und Ruin, als das US-Finanzministerium das Unternehmen mit 45 Milliarden Dollar auslöste und verstaatlichte.
Seit Beginn der Finanzkrise häufen sich die Selbstmorde von Börsenspekulanten, Managern und Bankern rund um die Welt. Wie so oft in ökonomischen Crash- und Krisenzeiten machen profilierte Finanziers mit Selbstmord Schlagzeilen. Ein neuer Begriff macht die Runde: Ökonozid.
In Japan steigerte sich die Zahl der Suizide auf dem Höhepunkt der Asienkrise 1998, einer schweren Finanz-, Währungs- und Wirtschaftskrise, um 35 Prozent. »Bitte nicht in der Hauptverkehrszeit springen«, mahnte damals fürsorglich ein Schild an den Gleisen der Tokioter U-Bahn-Station Shinjuku. Wissenschaftler, die die Selbstmordwelle untersuchten, fanden in Abschiedsbriefen und beim Gespräch mit Angehörigen vor allem ein Motiv für die Selbsttötungen: Schulden, dicht gefolgt von Aussagen wie »Geschäftsmisere« und »Existenznot«.
Ähnlich wohl auch die Motive von Alex Widmer, [55] Chef von Julius Bär, der erfolgreichsten Privatbank der Schweiz. Wie kein anderer glaubte er, die Mechanismen der Märkte durchschaut zu haben und sie beherrschen zu können, was ihm das Image eines Draufgängers einbrachte. Deshalb trifft die Finanzkrise ihn wie ein Schlag. Den Niedergang begreift er als persönliche Niederlage – er erhängt sich. Am Montag, dem 1. Dezember 2008, kurz vor Feierabend, sitzt er noch mit Jan Bielinski zusammen, einem seiner engsten Mitarbeiter und Sprecher der Bank. Man genießt eine Zigarre, schweigt, kommt zur Ruhe, während der Flachbildschirm an der Wand weiterflimmert; mit ausgeschaltetem Ton überträgt er die katastrophalen Nachrichten aus der Hochfinanz. In die Stille fragt Alex Widmer aus seinem Sessel heraus: Jan, was habe ich falsch gemacht? Bielinski ist überrascht, weil er solch selbstkritische Worte, so viel fundamentalen Selbstzweifel von seinem Chef noch nie gehört hat. Widmer ist immer ein unbedingter Optimist, ein Macher gewesen, vom Glauben beseelt, der Mensch sei seines Erfolgs eigener Schmied.
Aber schon in den Monaten zuvor hatten manche Mitarbeiter in der Bank Julius Bär bemerkt, dass ihr Chef ruhiger war als sonst. Es gab Meetings, da sagte er kaum ein Wort. Das fiel auf, bei einem, der ganze Teams in Euphorie versetzen konnte, der die Überzeugung vom grenzenlosen Wachstum vorlebte wie kein anderer und eine Schaffenskraft an den Tag legte, die ihresgleichen suchte.
Wenige Monate vor seinem Tod, als die Börsenkurse schon tief gefallen waren, sagte er in seinem letzten langen Interview: »Das Funktionieren der Märkte fasziniert mich ungemein, die Preisbildung der Aktien, die Psychologie der Märkte, die Psychologie der Leute. Daran wird sich nie etwas ändern.« Und dann sprach er einen jener Sätze aus, die inzwischen besonders bedeutsam geworden sind: »Wenn es an der Börse gut läuft, hängt der Himmel voller Geigen, wenn es schlecht läuft, bedeutet das den Tod.«
Bereits im Laufe des Jahres 2007 äußerte er mehr als einmal seinen engsten Vertrauten gegenüber, der Boom an den Finanzmärkten könne nicht so weitergehen. Nach den Olympischen Spielen 2008 in Peking werde es zu einem großen Kollaps kommen. Doch Widmer traut wohl seinen eigenen Voraussagen nicht, und erst recht hält er sich auch nicht an sie. Er kann seinen düsteren Prognosen in seinem Innersten nicht glauben – dafür ist er zu sehr hoffnungsvoller Optimist.
Am 15. September 2008 erfährt die Weltöffentlichkeit, dass die amerikanischen Behörden die
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