Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Ihr Sohn ist 24 Jahre alt und Musiker, ihre Tochter 21 Jahre, Studentin der Tiermedizin. Frau Neumann ist Rechtsanwältin. Sie leitet eine Kanzlei und fühlt sich ausgelaugt und ausgebrannt. Die Kanzlei geht gut. Sie wird von ihren Mandanten geschätzt, kann aber, wie sie sagt, nicht »nein« sagen und übernimmt mehr Mandate, als sie eigentlich bewältigen kann. Das Ergebnis: Sie hat keine Freizeit mehr, arbeitet auch am Wochenende, leidet inzwischen an Schlafstörungen, die ihren ausgelaugten Zustand weiter verschärfen. Sie zeigt typische Merkmale eines Burn-out-Syndroms und einer Erschöpfungsdepression.
Frau Neumann war schon einmal verheiratet. Aus ihrer ersten Ehe gibt es eine Tochter, die inzwischen 35 Jahre alt, selbst verheiratet und Mutter zweier Söhne ist. Frau Neumann hat aber weder zu dieser Tochter, noch zu ihren Enkelkindern irgendeinen Kontakt. Die erste Ehe ist für Frau Neumann ein dunkles Kapitel ihrer Biographie. Damals habe sie »Scheiß gebaut und gesündigt«. Sie habe getrunken und »unglaubliche Dinge« angestellt, Gesetzesverfehlungen und moralische Verfehlungen, für die sie sich bis heute schäme. Sie habe ihre erste Ehe auf dem Gewissen. Noch schlimmer: Sie habe damals ihre kleine Tochter im Stich gelassen, die in ein Heim und später in eine Pflegefamilie gekommen sei. In die Scham mischt sich Wut auf ihre eigene Mutter, von der sie sich im Stich gelassen fühlte, weil sich diese nicht um ihre kleine Enkeltochter gekümmert hatte.
Die Erinnerung an ihren Vater, einen Juristen, beschränkt sich auf die verächtliche väterliche Feststellung, dass eh’ nichts Gescheites aus seiner einzigen Tochter werden würde.
Nachdem Frau Neumann vom Alkohol abgelassen, erneut geheiratet und eine neue Familie gegründet hatte, begann sie ein Jurastudium, das sie mit Bravour meisterte. Sie hat sich ständig weiterqualifiziert und spezialisiert. Inzwischen ist sie Fachanwältin für Familien- und Sozialrecht. Dem Vater, sagt sie trotzig, habe sie es gezeigt. Nun habe sie es doch geschafft, und es sei etwas aus ihr geworden. Die Wut auf die Mutter ist ungebrochen; sie sei inzwischen auf Hilfe angewiesen, von Seiten der Mutter sei also nicht mehr auf Unterstützung zu hoffen. Für ihre beiden Kinder ist Frau Neumann keine Anstrengung zu viel. Sie finanziert großzügig das Studium ihrer Tochter und unterstützt den Sohn, der nur ein geringes Einkommen als Orchestermusiker an einem kleinen Theater bezieht. Das ist auch ihre Rechtfertigung für ihr immenses Arbeitspensum in der Kanzlei. Sie hat sich geschworen, es auf jeden Fall besser zu machen als ihre eigene Mutter. Sie wolle die eigenen Fehler und die ihrer Mutter auf keinen Fall wiederholen. Ihre beiden jüngeren Kinder sollen nicht das Gleiche erleben wie ihre älteste Tochter. Ihr Mann spielt nur eine Nebenrolle. Er taucht in dem Bericht von Frau Neumann nicht auf.
Hier zeigt sich ein zweifaches Schuld- bzw. Beschuldigungsszenario, gespeist aus dem Soll-Wert der Gerechtigkeit und den sich daraus ergebenden Ansprüchen. Da ist zum einen die Beschuldigung der eigenen Mutter, die ihr etwas schuldig geblieben ist, und zum anderen die Selbstbeschuldigung, da Frau Neumann sich gegen ihr eigenes Glaubenssystem vergangen hat. Die Versuche zur Wiedergutmachung der eigenen Schuld führen sie an die Grenze ihrer Belastbarkeit und darüber hinaus.
Herr Claus: Die Aufgabe, die Disziplin und die Kapitulationsverweigerung
Herr Claus ist 70 Jahre alt, sein Zustand beunruhigt ihn und seine Lebensgefährtin, mit der er seit 30 Jahren zusammenlebt. Er hat ständig Angst und Selbstmordgedanken und wurde vor vielen Jahren schon als depressiv diagnostiziert. In den vergangenen Monaten hat er 30 kg an Gewicht verloren. Sein Zustand hat sich dadurch noch weiter verschlechtert. Er und seine Lebensgefährtin wissen nicht mehr weiter.
Herr Claus selbst sieht sich in einer Falle gefangen, die immer wieder zuschnappt. Dieser Zustand sei unerträglich, sagt er, er sei nahe daran, »über den Jordan zu gehen«. Bis jetzt habe er aber durchgehalten, weil er ein zäher Hund sei. Er glaube immer noch daran, dass er sich »aus der Scheiße« herausarbeiten könne. Seine Kindheit sei belastend gewesen. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges musste er miterleben, wie seine Eltern in einer Turnhalle erschossen werden sollten. Dann hatten aber Soldaten die Halle gestürmt und die Erschießung verhindert. Dieses Erlebnis sitze ihm immer
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