Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
schuldig geblieben zu sein. Das möchte sie von ihrem Mann anerkannt wissen. Sie möchte von ihm, mit dem sie schließlich 22 Jahre verheiratet war, richtig gesehen werden. Sie hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, diese Anerkennung zu bekommen.
Aber sie ist seit Jahren niedergedrückt. Alles, was ihr früher leichtfiel, bereitet ihr nun erhebliche Mühe und ist mit großen Anstrengungen verbunden. An den Wochenenden fühlt sie sich leer – als könne sie sich gar nicht mehr selbst wahrnehmen und spüren. Die Anwesenheit ihres Freundes ändert daran nichts. Es fällt ihr leichter, über ihren Anspruch nach Anerkennung durch ihren Ex-Mann zu sprechen, als über die Vorzüge ihres neuen Lebensgefährten. Sie ist stärker auf negative Weise mit ihrem geschiedenen Mann verbunden, als auf positive Weise mit ihrem Freund. Die bisher für sie undenkbare Vorstellung, die beanspruchte Anerkennung von ihrem Mann vielleicht nicht mehr zu bekommen und die Hoffnung darauf begraben zu müssen, löst Tränen aus.
Wir können nur etwas als ungerecht erfahren, wenn wir eine klare und unumstößliche Vorstellung von Gerechtigkeit haben, einen stabilen Soll-Wert der Gerechtigkeit. Gerade dieser positiv besetzte Wert kann in einem Leben aber erheblichen Schaden anrichten. Unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit bereiten das Schlachtfeld nicht nur für die zermürbenden Kämpfe mit anderen um Recht, Ansprüche und Ausgleich von Ungerechtigkeiten. Sie können auch zur Selbstvernichtung führen. Wenn der Anspruch auf Gerechtigkeit nicht in ausreichendem Maße eingelöst, die Hoffnung auf Gerechtigkeit aber weiterhin gepflegt wird, lassen sich immer neue Quellen von Ungerechtigkeit entdecken. Niederdrückende Gefühle wie Neid oder Hass speisen sich aus der unerschöpflichen Quelle der Gerechtigkeitsansprüche.
Was vielleicht einmal als Pech oder Schicksal galt, wird nun als Benachteiligung und Ungerechtigkeit empfunden und drängt auf ausgleichende Gerechtigkeit. Die Herstellung von Gerechtigkeit ist zur Pflicht geworden. Wenn jedes Unglück und jede Ungerechtigkeit neue Ansprüche begründen, dann wird das schmerzhafte Erleben des Unrechts schließlich zum Maß aller Dinge. Das Leben wird zur ständigen Enttäuschung: Man wird schließlich kaum je genug geliebt, gewürdigt, geachtet, belohnt, das heißt so gerecht behandelt, wie es einem nach eigenem Dafürhalten zusteht. Doch je größer der Ehrgeiz ist, umso magerer erscheint das Ergebnis.
Der Soll-Wert der Gerechtigkeit und das Empfinden eines Gerechtigkeitsmangels erzeugt Ansprüche auf ausgleichende Gerechtigkeit. Diese Ansprüche werden anderen gegenüber geltend gemacht, man klagt ein und an und hofft auf Ausgleich. Ansprüche können aber auch gegenüber sich selbst geltend gemacht werden, wenn man sich selbst oder anderen etwas schuldig geblieben ist. In beiden Fällen wird auf Wiedergutmachung durch ausgleichende Gerechtigkeit gesetzt. Diese zweifachen Wiedergutmachungsansprüche haben oftmals einen hohen Preis, der zu zahlen ist, ohne dass man dafür das Gewünschte und Beanspruchte erhält.
Schuldner und Gläubiger
Werden Ansprüche nicht eingelöst, entstehen Schulden, und Schulden sind zu tilgen. Dabei können Schuldner- und Gläubigerrollen unterschiedlich verteilt sein.
»Ich habe Ansprüche an andere!« ist eine Möglichkeit; »Ich selbst bin anderen etwas schuldig geblieben« eine andere. Die entstandene Schuld kann ich durch Wiedergutmachung zu tilgen und durch mir selbst auferlegte Buße zu sühnen versuchen. Dabei sind die Wiedergutmachungsanstrengungen manchmal so leidvoll, dass sie gleichzeitig zur Buße oder Sühne werden.
Menschen haben aber auch Ansprüche an sich selbst, und zwar immer mehr und immer höhere. Sie bleiben sich selbst etwas schuldig. Wenn ich mein eigener Schuldner und Gläubiger bin, stehe ich vor der Aufgabe, meine Schuld bei mir selbst zu tilgen. Ich kann zunächst meine Bemühungen verstärken, meinem hohen Selbstanspruch endlich zu genügen und zusätzlich die schon entstandene Schuld abzutragen. Eine anstrengende Sache, da ich als Gläubiger meiner selbst meist sehr unnachgiebig bin. Schuldenerlass kommt nicht in Frage. Die Schuldenfalle schnappt zu: Je mehr ich versuche, meine Schulden bei mir selbst zu tilgen, umso mehr bleibe ich mir etwas schuldig, und die Schulden wachsen und wachsen.
Aktion Sühnezeichen – Frau Neumann, das Böse, die Schuld und die Wiedergutmachung
Frau Neumann ist 61 Jahre alt, seit 25 Jahren
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