Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
sein, sie nicht nur vor dem anderen, sondern auch vor sich selbst zu verbergen. Die vom gemeinsamen Harmonie-Ideal abweichenden Gefühle werden einfach nicht mehr gefühlt, solche Gedanken nicht mehr gedacht. Die innere Leere, Gefühllosigkeit ist geschaffen und kann sich breitmachen. Oder, um mit Karl Valentin zu sprechen: Dann brauchen wir diese gefährlichen Gefühle noch nicht einmal ignorieren!
Diese Maßnahmen haben allerdings kein vergnügliches soziales Arrangement zur Folge. Nicht nur verliert man die Verbindung zu sich selbst, sondern auch die zum anderen. Man wird sich fremd. Weder teilt man die eigenen Gedanken und Impulse mit, noch gibt man dem anderen die Gelegenheit, daran teilzuhaben. »Besucht« man einander, um sich zu begegnen, trifft man niemanden an, der Besuchte ist ja nicht zu Hause! Er ist unerreichbar geworden. Das führt zu Gefühlen der Erschöpfung und Überforderung; keiner fühlt sich mehr vom anderen verstanden.
Aber nicht nur die sozialen Beziehungen werden unerquicklich. Der Treuefundamentalist verliert bei den anstrengenden Versuchen, den anderen nicht zu verlieren, sich selbst. Er ist maßlos erschöpft von dem Versuch, eine mögliche Trennung zu verhindern. Kurz: er ist depressiv.
Ich bin für die Stimmung der anderen verantwortlich – die anderen für meine!
Verantwortungslosigkeit ist das Letzte, was man dem Depressiven vorwerfen kann. Er ist ein Großmeister der Verantwortung. Er hat hohe moralische Ansprüche. Schließlich geht es ja um die anderen: Partner, Familienmitglieder, Teamkollegen. Da man Treue gelobt hat und sich einer Schicksalsgemeinschaft zugehörig fühlt, ist man für die anderen verantwortlich, besonders für deren Wohlbefinden und deren gute Stimmung.
Aber wie sehr man sich dabei auch ins Zeug legt, wie sehr man auch die feindlichen Gefühle, die die Stimmung der anderen trüben könnten, bekämpft oder ausmerzt, man wird der Selbstverpflichtung nie ganz gerecht werden. Man kann nun einmal das Wohlbefinden und die Stimmung anderer nicht kontrollieren. Wohlbefinden und Gefühle sind hausgemacht. Man hat die Verantwortung für etwas übernommen, was man nicht kontrollieren kann – ein problematisches, besser wohl: größenwahnsinniges Unternehmen. Und das muss scheitern. Aber da man nicht nur den anderen, sondern auch den eigenen Vorstellungen, Entscheidungen und Werten treu ist, führt dieses – unvermeidliche – Scheitern zu Schuldgefühlen. Schuldgefühle allein machen schon schlechte Stimmung. Aber noch mehr getrübt wird sie durch das Verbot, diese Schuldgefühle zu zeigen: Man könnte sonst ja die Stimmung der anderen negativ beeinträchtigen.
Aber ganz so einfach ist es nicht: Wer sich für die gute Stimmung der anderen verantwortlich fühlt, macht diese andersherum gern verantwortlich für die eigene Stimmung. Wie ich dir, so du mir! Wenn ich für deine Stimmung zuständig bin, bist du es auch für meine! Und klappt das nicht, kommen zu den eigenen Schuldgefühlen Schuld vorwürfe an andere. Doch die muss man erst recht für sich behalten, um Harmonie und Einigkeit nicht in Gefahr zu bringen.
Ein solches Verhalten beeinträchtigt die Lebensqualität. Heruntergedrückt (depressiv) durch die Schuldenlast, schwächen Selbstanklagen das Selbstbild noch zusätzlich. Und die nicht geäußerten Vorwürfe an das Gegenüber zehren die letzten Reste an Selbstachtung und Selbstbewusstsein auf. Der kleinmütige Schuldwahn hat den Platz seines Zwillingsbruders eingenommen, des von Verantwortung strotzenden Größenwahns.
Sei ein Held!
Größenwahn bleibt nicht ungestraft. In der griechischen Götterwelt ist dafür ein eigener Geschäftsbereich eingerichtet. Das Ressort leitet die Göttin Nemesis. Ihr Kerngeschäft ist die Bestrafung menschlichen Größenwahns. Erledigt sie ihre Aufgabe, kann sich der kleinmütige Schuldwahn einstellen.
Philip Roth zeigt in seinem Roman »Nemesis« [190] die zwingende Logik dieses Prozesses. Er erzählt die Geschichte von Bucky Cantor, der als größenwahnsinniger Held beginnt und als tragischer Held endet. Bucky Cantor ist ein mutiger, verantwortungsbewusster und sozialer Mensch. Er fühlt sich stark und allen Herausforderungen gewachsen, doch seiner Kurzsichtigkeit wegen kann er im Zweiten Weltkrieg nicht als Soldat für sein Land kämpfen. Voller Schuldgefühle wegen seiner Kriegsuntauglichkeit bleibt er zurück. Stattdessen nimmt er 1944 unerschrocken den Kampf gegen die Polio-Epidemie an der Heimatfront, in
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