Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
noch in den Knochen. Er habe damals eine ungeheure Angst und unerträgliche Ohnmacht empfunden, weil er seine Eltern aus eigener Kraft nicht hätte retten können. Später habe er sich dann mit seinen Eltern, besonders mit seiner Mutter, fest »verschweißt«. Deshalb habe er eigentlich keine übliche Kindheit und Jugend erlebt. Er sei voll und ganz mit der Aufgabe beschäftigt gewesen, seinen Eltern, besonders seiner Mutter, ein angenehmes Leben zu bereiten. Zu seinem Vater habe all die Jahre kein wirklicher Kontakt bestanden. Der Vater war beruflich viel unterwegs, und er selbst habe sich die Aufgabe gestellt, den Vater, wenn er denn da war, in die Familie zu integrieren und ihm eine angenehme familiäre Atmosphäre zu schaffen. Unter anderem habe er sich immer bemüht, gute Noten aus der Schule nach Hause zu bringen, aber auch das habe nichts genutzt. Die Beziehung zum Vater sei nie innig geworden.
Nur einmal sei es anders gewesen. Sein Vater hatte sich mit der Axt verletzt und war sechs Wochen krankgeschrieben worden. Die letzten 14 Tage davon habe er mit seinem Vater nur im Wald verbracht, und das sei für ihn – seine Augen fangen an zu leuchten – eine ungeheuere Erfahrung gewesen: wenn morgens die Sonne aufging und sie wie Jäger durch den Wald gestreift seien, ohne dass man irgendetwas habe erbringen oder leisten müssen. Alles sei plötzlich so klar und gut gewesen. Da habe er die Welt mit anderen Augen gesehen.
Seine depressiven Krisen beschreibt Herr Claus als einen Tsunami, der immer wieder über ihm zusammenschlage. Er komme aber immer wieder aus dieser Falle heraus, dank seiner »soldatischen Haltung«. Man dürfe eben den Kampf nicht aufgeben und nicht kapitulieren. Doch das falle ihm immer schwerer. Kaum sei er wieder einigermaßen beieinander, zerstöre ihn die nächste Welle schon wieder. Das könne so nicht weitergehen.
Er sei inzwischen älter geworden, und die letzten Meter, die Restlaufzeit seines Lebens, wolle er nicht mehr mit diesen Krisen vergeuden. Die Frage, was denn stattdessen in seinem Leben Raum bekommen solle, macht ihn ratlos. Er habe ständig die Angst, etwas zu verlieren.
Sein Therapeut macht ihm den Vorschlag, seine Ansprüche an sich selbst, die bisher sein Leben geleitet haben, aufzulisten. Dann könne darüber nachgedacht werden, welche dieser Ansprüche er weiter aufrechterhalten und welche er in Zukunft aufgeben wolle. Herr Claus selbst meint, dass er möglicherweise ein Komplize seiner selbst werden wolle, statt sein eigener Gegner zu bleiben. Später meint er, er habe das Gefühl, als sei eine Lawine ins Rollen gekommen, als beginne jetzt seine Pubertät. Es habe sich etwas gelöst. Nun seien seine Eltern wirklich tot. Statt mit dem Tsunami sei er inzwischen mit dem »old man river« beschäftigt, dem Mississippi. Er genieße die Vorstellung, sich wie Huckleberry Finn auf dem Mississippi treiben zu lassen. In diesem Gespräch wirkt Herr Claus locker und entspannt. Man hat den Eindruck, er sei Jahrzehnte jünger, als es seinem biologischen Alter entspricht.
Plötzlich jedoch, wie aus heiterem Himmel, verändert sich seine Stimmung, er wirkt verkrampft und angespannt und spricht von Verrat. Er habe das deutliche Gefühl, dass er ein Verräter sei, auch wenn er nicht wisse, wen oder was er verraten habe.
Familie Maurer: Die Frage nach Schuld und Unschuld
Herr Maurer (73) und seine Frau (68) sind seit 49 Jahren verheiratet und haben drei erwachsene Kinder, einen Sohn und zwei Töchter.
Frau Maurer ist seit etwa zehn Jahren depressiv und nimmt unterschiedliche Antidepressiva, die ihr der Hausarzt verordnet; die Wirkung ist nur mäßig. Frau Maurer leidet unter massiven Schlafstörungen.
Beide Eltern sind voller Schuldgefühle gegenüber der einen Tochter, Angelika. Angelika ist 45 Jahre alt, unverheiratet, arbeitslos und wohnt in der Nähe der Eltern. Angelika wirft den Eltern, besonders der Mutter, vor, sie seien an den Misserfolgen in ihrem, Angelikas, Leben schuld. Ihr Leben sei durch die Eltern verwirkt.
Seit zehn Jahren ist Angelika bei einem Psychologen wegen Beziehungsproblemen, einer Angstproblematik und beruflichem Versagen in Behandlung. In der Psychotherapie sei festgestellt worden, dass ihre Probleme auf traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit zurückgingen. Sie habe mehrfach von ihrer Mutter Prügel bezogen und ihre beiden Geschwister nicht.
Angelika hat Betriebswirtschaftslehre studiert und sollte eigentlich das Familienunternehmen – ein
Weitere Kostenlose Bücher