Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
New Jersey, auf. Eine Schlacht, in der viele Kinder und Jugendliche in seiner nächsten Umgebung sterben, denn es gibt noch keinen Impfstoff gegen die Kinderlähmung. Cantor ist Sportlehrer und kümmert sich voller Hingabe um seine Schüler. Er versucht zu beruhigen, trifft alle Maßnahmen, um die Ansteckung seiner Schüler zu vermeiden – ein Blindversuch, weil damals noch niemand weiß, wie sich die Krankheit überträgt. Er beschäftigt die Kinder auf dem Sportplatz. Er harrt aus, er tröstet und nimmt Anteil, wo jemand erkrankt. Sein Einsatz macht ihn zum Helden der Kinder, die ihn schon als Lehrer und Sportskanone immer bewundert haben. Bucky ist entschlossen, die Stellung zu halten. Die Kinder zu beschützen ist sein Kriegseinsatz an der Heimatfront. Seine Voraussetzungen dafür sind ideal. Er ist mit fast allen Attributen eines klassischen Kriegshelden ausgestattet: Ein Modellathlet, unbesiegbar, wenn er den Speer, die klassische Waffe des klassischen Helden, schleudert.
Aber Bucky Cantor verliert den Kampf und wird mehrfach schuldig: Er gibt dem Drängen seiner Freundin Marcia nach und verbringt mit ihr die Ferien in einem Sommercamp in den Bergen. Aber die Epidemie bricht auch in die Idylle des Sommercamps ein: Bucky selbst wird krank. Er selbst, glaubt er nun felsenfest, hat den Poliovirus eingeschleppt. Er hat nicht nur seine Jungs in der Stadt verraten, indem er in die Berge gegangen ist, er ist auch schuld, dass die Krankheit sich bis in die Berge ausgebreitet hat.
Aus dem Helden wird ein verbitterter, einsamer Krüppel, niedergedrückt (depressiv) von seiner Schuld. Ein Mann, der sich als Postbeamter mühsam über die Runden bringt und auf Marcia, seine Liebe, verzichtet, obwohl Marcia bei ihm bleiben und mit ihm leben will.
Ein überdimensioniertes Verantwortungsgefühl, getragen von der Überzeugung, dass das Leben nicht sinnlos und absurd sein kann, verwandelt sich in Selbstanklage und führt zu einem vernichtenden Schuldspruch. Der Held bleibt ein Held, aber nun, indem er sich selbst opfert. Bucky Cantor versagt sich Leben und Liebe.
»Er konnte nicht akzeptieren, dass die Polio-Epidemie [ …] eine Tragödie war. Die Tragödie muss in Schuld verwandelt werden. Es muss eine Notwendigkeit geben für das, was geschieht. Eine Epidemie bricht aus, und er sucht nach dem Grund. Er muss fragen: Warum? Warum? Dass das Ganze sinnlos, zufällig, absurd und tragisch ist, stellt ihn nicht zufrieden.« [191] Und an anderer Stelle heißt es: »Ein solcher Mensch ist verdammt. Nichts, was er tut, reicht an sein Ideal heran. Er weiß nie, wo seine Verantwortlichkeit endet. Er glaubt nicht an seine Grenzen, denn da er mit einem strengen Gefühl für das moralisch Richtige beladen ist, das es ihm nicht erlaubt, sich mit dem Leiden anderer abzufinden, kann er nicht ohne Schuldgefühle anerkennen, dass seiner Kraft Grenzen gesetzt sind. Der größte Triumph eines solchen Menschen ist es, die Frau, die er liebt, vor einem verkrüppelten Ehemann zu bewahren, und sein Heldentum besteht darin, dass er sich, indem er diese Frau aufgibt, die Erfüllung seiner größten Sehnsucht versagt.« [192]
Es soll gerecht zugehen auf der Welt!
Bucky Cantor hat die feste Überzeugung, dass es in der Welt gerecht zugeht und gerecht zugehen muss. Er ist nicht nur mit sich selbst im Unreinen, weil er an seiner eigenen Verpflichtung zur Gerechtigkeit gescheitert und schuldig geworden ist – er hadert auch mit Gott, der seiner Meinung nach für Gerechtigkeit zu sorgen hätte: »Seine Vorstellung von Gott war die von einem allmächtigen Wesen, das keine Dreifaltigkeit war wie im Christentum, sondern eine Zwiefaltigkeit – die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie.« [193] Und doch wendet sich Bucky Cantor nicht von seinem Gott ab. Er ist mit ihm in einer vorwurfsvollen Beziehung verbunden und hält seine Ansprüche an die göttliche Gerechtigkeit aufrecht.
Frau Rosenkranz, die Gerechtigkeit, die Hoffnung und die Depression
Frau Rosenkranz ist 53 Jahre alt und seit vier Jahren von ihrem Mann geschieden, mit dem sie 22 Jahre verheiratet war. Sie hat seit zwei Jahren einen Freund, aber das Gefühl, ihm auf unangenehme Weise fremd zu bleiben. Seit drei Jahren hat sie außerdem die Diagnose einer Depression. Die Trennung von ihrem Ehemann zog sich über mehrere Jahre und viele Etappen hin. Sie glaubt, in ihrer Ehe alles gegeben zu haben, was sie habe geben können, und ihrem Mann nichts
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