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Milas Lied

Milas Lied

Titel: Milas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Keil
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lauter und schneller. Ich sah eine Sekunde in das gleißende Licht des Beamers und verlor den Faden, einfach so. Ein Satz war zu Ende und in meinem Mund wollte kein neuer wachsen. Ich glotzte wie gelähmt die Staubflöckchen an, die im Lichtkegel des Beamers eine wirre Formation tanzten. Ich sagte nichts mehr, aber es unterbrach mich auch niemand beim Nichtssagen, nicht mal Borchardt, der inzwischen am Fenster stand, mit dem Rücken zum Raum, und vermutlich längst einen anderen Erstsemester hinter der Glasscheibe beobachtete und verachtete. Oder er fragte sich, was ein gebildetes Exemplar von einem Menschen in diesem Raum voller unfertiger Halbmenschen verloren hatte.
    Ich betrachtete schweigend seinen Rücken und plötzlich erinnerten mich die eckigen Schultern unter dem gepolsterten dunklen Anzug an meinen Vater. Wie oft hatte er genau so am Wohnzimmerfenster gestanden, vollkommen reglos. Mit derselben Haltung hatte er die Beschimpfungen meiner Mutter über sich ergehen lassen, dem Porzellanreiher zuzwinkernd. Ich wusste nicht, aus welchem Winkel mein Gehirn diese Erinnerung zutage förderte. Sie musste mindestens zehn Jahre alt sein.
    Erinnerungen verblassen mit der Zeit, heißt es. Ich glaube, das ist ein Irrtum. Erinnerungen werden umso klarer, je mehr Zeit vergeht. Nur dass man irgendwann nicht mehr weiß, wie viel die Erinnerungen noch mit der Wirklichkeit zu tun haben.
    Dann hörte ich plötzlich Mimis Stimme. Sie erklärte meinen Teil unseres Vortrags für beendet, schaltete den Beamer ab und begann, Arbeitsblätter auszuteilen. Vor meinen Augen tanzten nun grüne Pünktchen.
    Der Haifisch bewegte seine Heckflosse und ruderte langsam in die Mitte des Raumes zurück. Er roch noch den Rest von Blut und setzte ein Grinsen auf.
    Eineinhalb Stunden später schlich ich mich aus der Uni, kaufte mir ein Käse-Sandwich, rief Hannah an und schmatzte ihr auf die Mailbox. Auch wenn es bescheuert klingt: Selbst ihre Mailbox-Stimme konnte mir Trost spenden.
    In der S-Bahn traf ich Rober t – klar, wen denn sonst? Die anderen schätzungsweise 3, 4 Millionen Einwohner Berlins wären mir natürlich lieber gewesen, aber ausgerechnet ein schnarchender, vagabundierender Schweizer quetschte sich in allerletzter Sekunde ins Abteil.
    Ein Unglück kommt eben selten allein.
    »Hallo, Robert.«
    »Hallo, Franziska. Wie geht’s?«
    »Gut, und selbst? Noch in Berlin?«
    »Ja, noch bis übermorgen.«
    »Aha, cool, sorry, muss aussteigen. Viel Spaß noch in der Hauptstadt.«
    »Alles klar. Man sieht sich.«
    Ich sprang aus dem Abteil, viel zu früh, aber trotzdem gerade noch rechtzeitig, wie ich fand. Die nächste S-Bahn kam in acht Minuten. Acht Minuten auf einem miefigen Bahnsteig zu stehen empfand ich als mildes Opfer. Ich sah meine S-Bahn mit Robert davonfahren.
    Hallo, Franziska.
    Ich hatte den Irrtum nicht aufgeklärt, um Robert nicht zu blamieren. Die ersten zwei Buchstaben meines Vornamens hatte er sich ja immerhin gemerkt. Außerdem: Welches Mädchen gibt sich gern in einer vollen S-Bahn die Blöße, dass ein Typ sich nicht an seinen Namen erinnert?
    Man sieht sich. Na prima. »Man sieht sich« ist Notwehr. Und fast immer gelogen. Auf meiner Phrasen-Skala rangiert es auf Plat z 2. Gleich nach »Lass uns Freunde bleiben«.
    Vielleicht bin ich in Liebesdingen ja ein bisschen paranoid. Ich dachte auch mal, das würde irgendwann aufhören. Dass ich jedes Mal so ausflippe, kaum dass sich ein einziger Schmetterling in meinen Bauch verirrt. Spätestens wenn ich erwachsen bin, dachte ich mal, habe ich das im Griff und treffe vernünftige Entscheidungen. Doch dann denke ich an meine Eltern. Und halte Erwachsenwerden allmählich für ein Gerücht.
    Als ich nach Hause kam, war Theo nicht da. Dafür lag auf dem Küchentisch ein Einkaufszettel: Kaffee, Klopapier, Waschmittel.
    Toll, das Jahr war noch keine Woche alt und Theo und ich kommunizierten über Zettel. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, welche wichtigen Termine Theo vom Einkaufen abhielten, aber ich ging davon aus, dass eine Frau dahintersteckte.
    Ich wusste nicht, mit wem Theo seine Zeit verbrachte, geschweige denn seine Nächte. Theo hatte immer irgendein Mädchen, aber er brachte so gut wie nie jemand mit nach Hause und wenn doch, sorgte er dafür, dass ich seine neueste Beute nicht zu Gesicht bekam. Aber riechen konnte man sie immer. Wenn ich früh genug wach wurde und ins Bad ging, lag noch ein Hauch Aloe Vera in der Luft oder Joghurt oder Bambus oder Milch und Seide, und

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