Milas Lied
gegeben hätte, wäre ich vermutlich nicht in Berlin gelandet, sondern säße immer noch bei meinen Eltern, würde sauer aufs Leben sein, Schokolade in mich hineinstopfen und meiner ersten großen Liebe hinterhertrauern. Moritz, dieser Blindgänger. Das Tollste an ihm war seine Katze.
Hannah hatte das größte Opfer gebracht, das man von seiner besten Freundin erwarten kann. Sie ermutigte mich dazu, von zu Hause wegzuziehen, was auch hieß: weg von ihr. 59 7 Kilometer weit weg, um genau zu sein. An einem Tag wie diesem waren das 59 7 Kilometer zu viel.
Ich weiß nicht, wie mein Soziologie-Professor Alexander Borchardt auf die Idee gekommen war, ausgerechnet Mimi und mich am 3 . Januar, am ersten Tag Uni im neuen Jahr, ein Referat halten zu lassen: »Der sozialhistorische Prozess der Verstädterung«. Du meine Güte. Wahrscheinlich war sowieso die Hälfte der Kursteilnehmer nicht anwesend. Die reinste Schikane.
Borchardt hasste Studenten. Nicht den Studenten an sich, jeden einzelnen persönlic h – das wäre ja auch absurd, denn schließlich verdankte er Geschöpfen wie mir seine Existenz. Doch sobald Studenten in Masse auftauchten, was sie an einer Universität naturgemäß taten, löste das eine Art allergische Reaktion bei ihm aus. Wenn Borchardt einen vollen Seminarraum betrat, war ihm anzusehen, dass diese vielen jungen Menschen, diese vielen Körper ihn anwiderten. Es bildeten sich binnen Sekunden Schweißperlen auf seiner Stirn, die eine unangenehme Duftmischung aus Haargel und Old Spice verströmten.
Mimi ist übrigens der einzige Mensch, den ich kenne, der Zucker in seinen Kakao tut. »Ist gut für die Nerven«, sagte sie, als wir vor dem Seminarraum herumlungerten und sie meinen angewiderten Gesichtsausdruck bemerkte.
Abgesehen von unserem Studienfach und unserer Vorliebe für Kakao hatten Mimi und ich nicht viel gemeinsam. Nach der Uni sahen wir uns nie. Nicht mal zu einem Treffen für unser Referat hatten wir uns durchringen können. So haben wir uns das natürlich nie gesagt, aber wir erfanden die tollsten Ausreden, um eine persönliche Begegnung zu verhindern. In kürzester Zeit hatte ich Magen-Darm-Grippe, Blasenentzündung und meine Tage. Es sind die besten Ausreden der Welt. Zu jeder Jahreszeit möglich und so delikat bis unappetitlich, dass keiner nachfragt.
Jede Absprache, die wir treffen mussten, wickelten Mimi und ich also per E-Mail ab. Dabei versah Mimi jede ihrer E-Mails mit einem roten Ausrufezeichen. Hohe Dringlichkeit. In meinem Postfach gab es exakt sieben Mails mit hoher Dringlichkeit. Sechs von Mimi und eine von Hannah, die kam, nachdem ich ihr von Mimi und ihren dringlichen Mails erzählt hatte.
Allerdings hätte es mich schon interessiert, wie Mimi, das wandelnde Ausrufezeichen, lebte. Wie sie wohnte. Welche Farbe ihre Wände hatten. Welches Duschgel sie benutzte. Als angehende Sozialwissenschaftlerin muss ich solche Dinge wissen. Sie sagen viel über Menschen aus, mehr als Worte. Nicht mal einer wie Theo ist gegen die unterschwelligen Botschaften gefeit, die ein Duschgel sendet. Sein Duschgel riecht irgendwie grün, nach Urwald.
Was Mimi und ihr Duschgel betraf, siegte bei mir dann doch die Bequemlichkeit. Davon abgesehen konnte ich mir auch so vorstellen, wie es roch: niedlich.
Leute wie Mimi halten es für ein krasses Geständnis, dass sie ihre Füße hässlich finden oder dass sie sich heimlich das Profil der neuen Freundin ihres Exfreunds auf Facebook angucken. Als seien das echte Abgründe. Mimis haben bei Facebook im Durchschnitt 20 0 Freunde. Ich glaube, Mimis sind so beliebt, weil es Leute gibt, die ihnen glauben wollen, dass ein krummer Zeh ein Abgrund ist.
An diesem Vormittag im Januar war ich zum ersten Mal aufrichtig froh, dass es sie gab, also Mimi. Sie war süß und harmlos wie Kakao und Borchardt schätzte ihren Augenaufschlag. Sobald Mimi den Raum betrat, mutierte dieser alternde akademische Haifisch für gewöhnlich zu einem Karpfen. Nur schienen an jenem Vormittag leider weder Mimi noch Hannahs Hexenformeln zu wirken. Alexander Borchardt, der Haifisch, wollte sich einfach nicht in einen Karpfen verwandeln. Wie ein Feldwebel stand er neben uns und aus den Augenwinkeln konnte ich beobachten, wie er mit wippenden, polierten Schuhspitzen den Fußbodenbelag malträtierte. Lauernd. Lauernd auf den ersten schiefen, blöden Satz.
Ich klammerte mich an das Stück Papier in meiner Hand, doch die Buchstaben wurden immer kleiner und das Trippeln der Schuhsohle immer
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