Milchbart (German Edition)
beste Weg zu diesem Ziel.«), statt also zu tun, was der Terminplan vorschrieb, lehnte sich Fanni an die apricotfarbene Wand und schloss die Augen.
Wie deprimierend, dachte sie, dass dieses Wort womöglich nie fällt, die Geste nie ausgeführt, das Bild nie auftauchen wird. Der springende Punkt nämlich ist, dass es Wort, Bild und Geste überhaupt nicht geben muss. Aber was dann? Soll ich mich bis ans Ende meiner Tage in der Parkklinik einquartieren, weil ich vergessen habe, was sich in meinem Leben während der vergangenen sechs Jahre ereignet hat?
Du kannst ja hier die Fliege machen! Niemand zwingt dich, zu bleiben. Quartier dich doch bei Hans Rot ein oder bei diesem Sprudel. Beide scheinen ganz wild darauf zu sein, dich unter ihre Fittiche zu nehmen. Oder such dir ein Einzimmerapartment – in Deggendorf beispielsweise. Da kannst du dich Tag und Nacht vors Radio setzen und auf dein Schlüsselwort warten!
Fanni stöhnte laut auf. Nie, niemals hätte sie sich vorstellen können, wie es war, wenn man einen Teil seines Lebens nur aus Erzählungen anderer kannte, mochten einige der Berichterstatter – so wie ihre Tochter Leni – noch so vertrauenswürdig sein. Eigene Erfahrungen und Erinnerungen ließen sich durch nichts ersetzen.
Zusammen bilden sie das, dachte Fanni, was man Persönlichkeit nennt – Individualität, Wesensart. Das lässt sich nicht kopieren, mit bloßen Worten schon gar nicht.
Womit wir wieder auf die Elektroschocks kommen! Ein kräftiger Stromstoß durchs Hirn könnte dir womöglich eine ganz neue Persönlichkeit verschaffen!
Fanni musste grinsen. Was, wenn er ganz nebenbei einem vorlauten Gedankenstimmchen den Garaus machen würde?
Grmpf!
Fanni hob erneut die Hand, um anzuklopfen.
Elektroschocks sind passé, dachte sie. Heutzutage versucht man es – weniger schmerzhaft, aber wohl ebenso erfolglos – mit Gesprächstherapie.
»Die einzige Möglichkeit, an die Erinnerung heranzukommen«, hatte ihr Dr. Wein versichert.
Fanni hatte auf ihr Klopfen hin das gewohnte »Ja, bitte« erwartet, aber hinter der Tür blieb es still. Sie wiederholte die Prozedur und trommelte schließlich, als sich Marita Bogner noch immer nicht vernehmen ließ, mit den Fingerknöcheln ein Stakkato aufs Holz. »Frau Bogner, sind Sie da?«
Wo soll sie denn sonst sein, die Gute? Sie ist ja nicht herausgekommen, seit du dem Milchbart begegnet bist! Oder ist sie nach der Gesprächsrunde mit ihm vor lauter Frust aus dem Fenster gesprungen, weil sie endlich kapiert hat, in welcher Sackgasse er steckt?
Fanni öffnete die Tür.
Marita Bogner saß hinter ihrem Schreibtisch und starrte sie an.
»Ich wollte …«, begann Fanni, während sie ein paar Schritte in den Raum machte, »ich wollte Sie wirklich nicht stören, Frau Bogner. Natürlich brauchen Sie eine Verschnaufpause zwischen zwei Therapiestunden. Aber …« Ihre Stimme versandete, weil Marita Bogner sie noch immer unverwandt ansah.
Falsch, sie sieht durch dich hindurch!
»Ist Ihnen nicht gut, Frau Bogner?« Fanni trat noch einen Schritt näher.
Die Therapeutin rührte sich nicht. Sie saß weit zurückgelehnt in ihrem bequemen Drehstuhl und ließ die Arme baumeln. Den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt. Er ruhte am Gestänge eines soliden Paravents aus Eisenstreben, zwischen denen bunte Kassetten mit geometrischen Motiven eingepasst waren.
Fannis Blick wanderte über Marita Bogners bleiche Stirn zu ihren ausdruckslosen Augen, über die schmale Nase zu den blau angelaufenen Lippen, die kein Hauch von Leben oder Lippenstift rötete; er kroch über das runde Kinn und blieb an einem Muster aus Steppstichen hängen, das sich quer über den Hals der Therapeutin zog.
Sie ist tot, Fanni Rot! Du hast es hier mit einer Leiche zu tun!
Fanni wedelte mit beiden Händen, als wollte sie die Gedankenstimme wie einen schlechten Geruch aus dem Zimmer scheuchen.
Mit sinnlosem Herumfuchteln wirst du nicht ungeschehen machen können, dass Marita Bogner ermordet worden ist, erwürgt, erdrosselt, stranguliert – irgend so was in der Art. Ihr Halsschmuck besteht aus Würgemalen. Du befindest dich definitiv vor einer Toten, Fanni!
Fanni schluckte, starrte die reglose Therapeutin an, schluckte wieder.
Nein, dachte sie, nein, nein, nein. Frau Bogner kann nicht tot sein, ermordet schon gar nicht. Wann denn? Von wem denn? Ich halluziniere. Mein Gehirn rennt immer weiter in die Irre. Versucht es etwa, die Leerstelle, die es selbst verursacht hat, mit Trugbildern zu
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