Milchbart (German Edition)
füllen?
Das angebliche Trugbild wirkt aber verdammt echt! Du könntest die Probe aufs Exempel machen. Wenn real ist, was du siehst, muss es sich auch fühlen lassen. Fass mal an!
Fanni trat einen weiteren Schritt auf Frau Bogner zu, sodass sie jetzt an der Schmalseite des Schreibtisches stand. Sie brauchte nur ihren linken Arm auszustrecken, dann konnte sie die Hand auf Maritas rechte Schulter legen. Aber sie zögerte.
Na los doch!
Plötzlich gab der Drehstuhl ein leises Knacken von sich und machte im selben Augenblick einen kleinen Ruck in Fannis Richtung. Frau Bogner schien sich ihr zuzuwenden.
»Ha!«, rief Fanni. »Das haben Sie sich aber fein ausgedacht.« Sie lehnte sich an die Schreibtischecke, schob eine Pobacke auf die Arbeitsplatte, sodass sie halb saß, und stützte sich mit den Händen auf einer der Kunststofffolien ab, die dort herumlagen und offenbar Patientendaten enthielten. »Schade«, fuhr sie fort. »Es hätte wirklich funktionieren können. Offensichtlich setzt meine Amnesie ja zu dem Zeitpunkt ein, zu dem ich die Leiche meiner Nachbarin Mirza Klein unter meinen Johannisbeerstauden entdeckt habe. Ein neuerlicher Leichenfund, dachten Sie wohl, könnte das geeignete Schlüsselerlebnis sein, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.« Sie hob in einer bedauernden Geste die Hände. »Aber leider …«
Fanni unterbrach sich, weil sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Haltsuchend griff sie um sich, warf einen Bücherstapel um, der mit Gepolter zu Boden fiel und eine Schale mit Stiften, Büroklammern und allerlei Krimskrams mit sich riss. Endlich bekam sie etwas zu fassen, das ihr half, sich zu stabilisieren. Sie behielt das Ding in der Hand, während sie sich aufrichtete und wieder auf die Füße kam.
Marita Bogner bewegte sich nicht, verzog keine Miene.
Fanni stand keine dreißig Zentimeter von ihr entfernt und starrte sie an. Nach einer Weile holte sie tief Luft.
Hast du es jetzt endlich kapiert, Fanni Rot?
»Aber sie kann doch unmöglich …«, stammelte Fanni.
Klar kann sie! Warum denn nicht? Hat dein Hirn nur eine Lücke, oder ist es komplett verödet? Die Frau ist tot, Fanni, vermutlich ermordet, und du tätest gut daran, endlich …
In diesem Moment ertönte ein kurzes Klopfen, dann flog die Tür auf.
»Darf ich dich angrapschen?«
Fanni wirbelte herum und sah sich Alexander Pauß gegenüber, der sie fragend ansah.
Die Antwort heißt »Nein« und soll möglichst deutlich, unpersönlich und emotionslos gesprochen werden!
Fanni brachte nur ein Krächzen heraus. Daraufhin hob Alexander die Hand bis in Brusthöhe und strich ihr sanft über den Kopf. Er überragte sie um gut fünfundzwanzig Zentimeter.
Sie schloss für einen Moment die Augen und klammerte sich an dem Ding fest, das sie noch immer in der Hand hielt. Als ihre Umgebung wieder hell wurde, bemerkte sie, dass sich Alexander von ihr ab- und der Therapeutin zugewandt hatte, die nach wie vor reglos in ihrem Drehstuhl saß.
»Darf ich dich angrapschen?«
»Nein!«, schrie Fanni.
Doch Alexander kümmerte sich nicht um sie.
Seine Konditionierung haut offenbar nur dann hin, wenn der tatsächlich Angesprochene antwortet, und zwar mit möglichst neutraler Stimme!
Alexander breitete soeben die Arme aus und beugte sich zu der Toten hinunter. Bevor Fanni auf irgendeine Weise reagieren konnte, hatte er Marita Bogner schon umfasst.
»Sie ist tot«, flüsterte Fanni.
Alexander betrachtete das Würgemal an Marita Bogners Hals. Dann ließ er von ihr ab und sagte: »Ja. Sie atmet nicht. Ihre Kehle scheint verletzt worden zu sein.«
Schau her, der verkorkste Junge hat mehr Hirn als Fanni Rot!
Fanni warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu. »Wir müssen den Professor informieren.«
Alexander drehte sich zum Schreibtisch um und hob den Telefonhörer ab. »Wenn man Null-Null wählt, blinkt in der Zentrale ein Alarmlämpchen auf. Der Pförtner kann sehen, von wo aus angerufen wurde, und sofort jemanden vom Personal dorthin schicken.«
Warum hat Fanni Rot eigentlich nicht schon vor einer Viertelstunde Null-Null gewählt?
Fanni seufzte. Selbst ein Zwangsneurotiker war ihr haushoch überlegen.
Alexander hatte zweimal kurz hintereinander auf die Null der Telefontastatur getippt und den Hörer dann aufgelegt. Jetzt wandte er sich wieder Marita Bogner zu.
»Darf …«, begann er, unterbrach sich jedoch und blieb abwartend stehen.
Fanni krampfte ihre Hände um das Ding, das sie noch immer nicht losgelassen hatte.
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