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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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wurden mit einem Messer in der Mitte durchgeschnitten. »Aber macht es so«, wurde die Seifritz-Großmutter nicht müde, Anweisungen zu geben, »dass sie auf beiden Seiten schöne Triebe haben.« Das Grastuch um die Hüfte gebunden, die beiden oberen Zipfel um den Hals, so schleppten die Bauersleute die Erdäpfel von Furche zu Furche. Alle Schritt wurde einer in die Erde gelegt. Aufatmen, wenn das Tuch endlich leichter wurde.
    Die Saat für das Korn trugen sie in blauen Schürzen übers Feld. Mit bedächtigem Gesicht schritten die Bauern über die offene Erde. Eine feierliche, weihevolle Handlung – hätte man glauben mögen, als Unwissender, doch vordringlich ging es den Bauern darum, nur ja kein Körnchen zu vergeuden und den Inhalt der hohlen Hand wirtschaftlich zu verteilen. Vierschrötige Mannsbilder nahmen so zumindest für Stunden eine würdevoll konzentrierte Haltung an, und einen Ausdruck im Gesicht, der einen tiefgläubigen Mann hinter dieser zerfurchten, von Sonne und Eis gelederten Haut vermuten ließ. Mancher sprach zu seinem armschwingenden Gang tatsächlich ein Gebet zum Himmel, auf dass das Wetter sich gütig erweise und die Ernte als reichlich. Dass die Bauern in jener Zeit ausnahmslos blaue Schürzen zum Säen verwendeten, hatte freilich nichts mit Glauben zu tun, auch das Saatgut auf den Dachböden wurde häufig auf großen, blauen Tüchern ausgebreitet. Seit Generationen nämlich vertrauten sie auf das Wissen der Altvorderen, wonach Blau, die Farbe des Himmels, die Keimkraft wecke, die Samen widerstandsfähiger mache gegen Schädlingsbefall, und sie zudem kräftiger wachsen lasse.
    Gegen Ende dieser arbeitsreichen Zeit war Jakob an einem luftig heiteren Tag ins Träumen geraten. Er lag auf dem Rücken im Gras und kaute an einem Sauerampfer. Über ihm war nichts als der blitzblaue Himmel. Jakob verstand das nicht: Wenn keine Wolken am Himmel stehen und kein Nebel die Sicht verstellt, warum sind dann bei Tag keine Sterne zu sehen? Die können doch nicht weg sein! Jakob kniff die Augen zusammen. Er grübelte. Legte die Stirn in Falten. Und weil er auf keinen grünen Zweig kam, fragte er sich, wie Fabio ihm die Sache wohl erklärt hätte. Jakob schloss die Augen. Mit der Zeit schweifte er ab, ließ sich davontragen von seinen Gedanken. Und dann grinste er. Lag noch immer ausgestreckt in der Wiese und grinste übers ganze Gesicht. Grinste, grinste, grinste. Und kreischte plötzlich »Jiiiiiiiiiiha!«, denn er hatte die Lösung gefunden.
    Ganz allein war er draufgekommen, er, der Dorftrottel, ganz allein. Und nicht nur das. So nebenbei hatte Jakob auch gleich ein tieferes Geheimnis hinter dem Rätsel gelöst. »Die Sterne sind bei Tag nicht zu sehen, weil es zu hell ist«, formulierte er für sich. »Das heißt, es kann passieren, dass man wegen zu viel Licht die Wahrheit nicht sieht.« Jakob war aufgewühlt über die dahinschießende Dynamik seiner Erkenntnis. »Das heißt, dass man vor lauter Klarheit und Selbstverständlichkeit die Wahrheit übersehen kann.« Und weil er gerade so schön in Schwung war, probierte der Bursche noch höherfliegende Gedanken: »So ist es auch mit Gott. Man reißt die Augen auf, um ihn endlich einmal zu Gesicht zu bekommen, dabei müsste man sie nur schließen, nur in sich selbst schauen, und würde ihn erblicken.« Jakob lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Sonnenstrahlen malten Fäden und bunte Flecken unter seine Lider. Die Fäden und Flecken rutschten hin und her, bewegten sich, sackten nach unten, wurden zur Seite gezogen, kippten aus dem Bild. Jakob presste die Augen zusammen. Sternchen flackerten auf, zuckten übers gekrümmte Firmament seiner Augen, schwebten nach oben, blieben hängen, verglühten, und neue wurden geboren.
    »Jakob!«, schrie der Huber-Bauer.
    Sein Knecht schreckte auf. Die Sonne blendete ihn, aber er konnte die Umrisse seines Herrn auf sich zulaufen sehen. »Du verfluchter, idiotischer Nichtsnutz!«, brüllte der Bauer. Jakob kniff die Augen zusammen. Am oberen Ende des deutlicher werdenden Umrisses erkannte er, wie eine Mistgabel geschwungen wurde.
    Jakobs Träumereien hatten ihn völlig seine Aufgabe vergessen lassen. Eine einzige Aufgabe, ebenso simpel wie wichtig, war ihm zugewiesen worden. Der Huber-Bauer hatte von ihm verlangt, die weidenden Kühe zu hüten, sie keinesfalls in den Kleeacker zu lassen, unter keinen Umständen, denn das könnte sie das Leben kosten. Wenn nämlich eines der Rinder tagsüber Klee fraß, stand es am

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