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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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nicht. Da sah Jakob den Bauern zum ersten Mal mit Tränen in den Augen. Dick rannen sie über sein geädertes Gesicht, und obwohl es eigenartig war, war es doch auch irgendwie stimmig, dass der Bauer in diesem Augenblick, da er weinte, laut losfluchte und schimpfte. Mit Gott oder der Kuh, das war nicht klar. »Warum tust du mir das an!«, heulte er auf. »Bin ich nicht gestraft genug!« Kummer verzerrte sein Gesicht zu einer erbärmlichen Fratze, wild riss er am Schaft der Hacke, das Eisen aus dem Schädel der Kuh zu bekommen. Es knirschte und knarrte, Blut überall, quoll in dicken Wellen aus dem breiten Kopf des Tieres, üppiger, je mehr der Seifritz-Bauer die Hacke in alle Richtungen mergelte. Endlich gaben die Schädelknochen sie frei, und weil es so abrupt geschah, fiel der Bauer nach hinten, in den Viehdreck, in den Urin, ins Blut. Weinerlich fluchend sprang er auf, und dann donnerte er dem sterbenden Tier mit einem mark­erschütternden Schrei noch einmal das Eisen in den Schädel. Hinter den geschlossenen Lidern zuckte es, Blut gurgelte aus der offenen Wunde und die Kuh schnaubte ihr Leben aus.
    Der Seifritz-Bauer stand schlaff vor seinem Werk. Kraftlos hingen ihm die Arme zu Boden. In der Rechten hielt er noch die Hacke. Seine Finger öffneten sich und sie fiel zu Boden. Er drehte sich um und schlich davon.
    ***
    Als ich auf Zehenspitzen in die Stube geschlichen bin, habe ich meinen Augen nicht trauen wollen: Der Seifritz-Bauer, der breitschultrige, griesgrämige, bösartige Seifritz-Bauer ist im Herrgottswinkel gesessen und hat geheult. Wie unsereiner es schon oft getan hat, ist er da gehockt und hat sich mit gefalteten Händen bei der Mutter Gottes über sein Schicksal ausgeweint. Seine Schultern haben gezuckt vor verzweifelter Traurigkeit. In dem Moment habe ich zum ersten Mal Mitleid mit ihm empfunden, mit ihm, der mich so oft zum Weinen gebracht hat, der mich so oft geschlagen und bestraft hat für Nichtigkeiten. Auf einmal war er für mich ein anderer, ein Lieber, ein weicher Mensch, wie wir alle.
    Rasch habe ich kehrtgemacht und mich aus der Stube gestohlen. Ich habe es endlich wissen müssen, habe endlich Gewissheit haben müssen, wer der Kuhschänder ist. Diesmal, habe ich mir vorgenommen, müssen die Kühe mir verraten, wer ihr Peiniger ist. Ich bin in den Stall zurück.
    »Sagt mir, wer es war!«, habe ich die Kühe angeschrien, habe auf sie eingeredet und sie beschworen, dem Treiben des Täters ein Ende zu machen, habe ihnen keine Ruhe gelassen, und weil wie bei den letzten beiden Malen wieder keine das Maul hat aufmachen wollen und auch die Gedanken, die ich habe auffangen können, nur von Angst erfüllt waren und von sonst nichts, bin ich zu unserer ältesten Kuh gegangen, habe mich direkt vor ihr auf die Fersen gehockt, habe ihren Schädel mit beiden Händen fest gepackt, so, dass sie mir ihren Blick nicht verwehren hat können, und dann habe ich ihr meinen Willen aufgedrängt und sie noch einmal gefragt, wer es gewesen ist. Blitzartig ist ein Gedanke in ihren ängstlich traurigen Augen gestanden, so klar, dass kein Zweifel mehr war. Und ich habe gewusst, dass mein Vater der Kuhschänder ist. Mein Vater, der Seifritz-Bauer.
    Kaum habe ich gefunden, was ich so dringend hatte finden wollen, habe ich nicht gewusst, was damit anfangen. Zum Seifritz-Bauern habe ich mich nicht getraut. Eigentlich komisch: Er war es, der was Furchtbares angerichtet hat, und ich, der ich völlig unschuldig war, habe mich gefürchtet, ihn darauf anzusprechen. So was Blödes! Dann habe ich beschlossen, zur Gendarmerie zu gehen. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und bin ins Dorf gegangen. Als ich vor dem Wachposten gestanden bin, ist mir eingefallen, dass sie mich sicher nach Beweisen fragen, nach Zeugen. Ich hätte sagen müssen, mein Zeuge sei unsere älteste Kuh. Ich habe also umgedreht, zurück zum Hof. Den Nachbarn könnte ich es sagen, habe ich überlegt, dem Bürgermeister oder dem Pfarrer, nein, dem Pfarrer nicht. Egal, keiner von ihnen hätte mir geglaubt. Und wenn, dann hätten sie nichts unternommen, weil es ja keinen Zeugen gab, außer unserer ältesten Kuh. Und die würden sie nicht als Zeugin akzeptieren, da war ich sicher, und mich als Übersetzer noch weniger.
    Es war ein Kreuz, ein furchtbares Schlamassel. Da war ich so ungestüm gewesen und hatte vor den Kühen so wichtig getan, dass ich unbedingt wissen müsse, wer ihr Schänder ist, und nun wusste ich es und war zu dumm und zu feig, um mit

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