Milchfieber
warum alles so gekommen ist?“
Allmers schüttelte den Kopf.
„Das hast du Hella zu verdanken“. Und auf Allmers fragenden Blick sagte sie: „Als du bei ihrer Beerdigung so hemmungslos geweint hast, habe ich mich das dritte oder vierte Mal in dich verliebt. Ich musste dich haben.“
Kapitel 37
Er zog sie an ihren Beinen über den Boden. Er hatte lange gewartet, bis er sich sicher war, dass sein Bruder eingeschlafen war und öffnete dann leise die Haustür. Er ließ die Tür offen, schleppte sie über die Stufen und wuchtete sie über das Fahrrad. Die Nacht war stockdunkel, mehrmals stolperte er über Wurzeln, die aus dem Moorweg wuchsen, aber er schaffte es, dass sie nicht vom Rad fiel. Er kannte sich aus, den Weg hätte er auch mit verbundenen Augen gefunden, in seiner Kindheit war er hier jeden Tag mit seinem Bruder und Hans-Georg Allmers durch die Wildnis gestreift. Sein Ziel war die große Moorschlenke, so nannte man in der Gegend ein Naturphänomen. Über einem Wasserloch mitten im Moor, bei dem sich aus unbekannten Gründen über die Jahrhunderte kein Torfmoos ansiedeln konnte, war eine Rasendecke gewachsen, die zwar einen Hasen tragen konnte, bei schwereren Tieren aber sofort nachzugeben drohte. Bei einem Menschen, der unachtsam darauf trat, gab der Schwingrasen in Sekundenbruchteilen nach, er versank und der Rasen schloss sich über ihm, als ob nie etwas gewesen wäre. Das Loch war tief, mehr als vier Meter und durch die Rasendecke herrschte unter Wasser tiefste Dunkelheit. Wer nicht gleich ertrank, geriet so in Panik, dass das Herz versagte.
Da hinein sollte sie, hatte er sich entschlossen. Er wollte sie verschwinden lassen, niemand sollte je wieder etwas von ihr hören.
Er wusste, dass er wie ein Luchs aufpassen musste, um nicht selbst Opfer des tückischen Rasens zu werden. In seiner Kindheit war es ihm streng verboten, auch nur in die Nähe des Lochs zu kommen, aber er und seine Freunde hatten natürlich oft an der Kante gesessen und mit langen Stangen die Tiefe ausgelotet. Als er die Schlenke erreicht hatte, war er bis auf seine Unterwäsche durchgeschwitzt. Die Anstrengung und die Anspannung hielt er fast nicht mehr aus. Er ließ sie vom Rad gleiten, schob sie vorsichtig auf den Schwingrasen und half mit einem Holzprügel, den er neben dem Loch fand, ein wenig nach.
Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und so sah er mit Befriedigung, wie der Rasen sich teilte und sie in der Tiefe verschwand. Es dauerte eine Weile, bis sich der Schwingrasen wieder geschlossen hatte.
Er hatte beschlossen, dass sie wie vom Erdboden verschluckt sein müsse, und als er im Dunklen vor der Moorschlenke stand, wusste er, dass er seinen Vorsatz erfolgreich durchgeführt hatte.
Später, als er wieder in seinem Bett lag, sagte er sich ein zweites Mal, dass er alles richtig gemacht hatte.
*****
Normalerweise musste Allmers 11 Milchkontrollen, auf den offiziellen Unterlagen hieß es „Probenahmen“, pro Jahr durchführen. Einen Monat im Sommer, er konnte ihn selbst auswählen und entschied sich meist für den August, ruhte der Betrieb des kleinen Milchkontrollvereins. Dieses Jahr war Allmers völlig durcheinander gekommen. Nach Hella Köhlers Tod hatte er sich drei Wochen lang um keine Kontrolle bemüht und plötzlich, merkte er, war ihm die Zeit davongelaufen. Der Anruf von seiner Kollegin mit der Bitte, sie zu vertreten, kam ihm deshalb völlig ungelegen. Eigentlich wollte er die wenige Zeit, die er momentan hatte, zu viele Termine mussten nachgeholt werden und Stress verabscheute er, nur mit Wiebke verbringen. Ihre Möbel und all anderen Dingen aus ihrer Wohnung waren in seinem Haus angekommen und beide versuchten, aus ihren Einrichtungen etwas zu schaffen, was beiden gefiel.
„Ich kann nicht heute Abend“, sagte die Frau weinerlich am Telefon, „Ich bin so fertig.“ Allmers hatte von ihren Problemen mit ihrem Mann gehört und fragte nicht weiter nach.
„Aber nur dieses eine Mal“, sagte er. Trotzdem ließ er sich bereden, auch die morgendliche Kontrolle zu machen.
Über Claus Ruf meinte der örtliche Steuerberater, auch Allmers ließ dort seine Einkommensteuererklärung fertigen, es gebe nur wenige im Dorf, bei denen er froh sei, dass sie nicht zu seinen Klienten gehören würden. Ruf sei so einer.
Allmers sah ihn nur selten, er wohnte im nächsten Milchkontrollbezirk und dazu noch etwas weiter weg. Allmers kannte auch nur oberflächlich die Gründe für seine Unbeliebtheit, er wusste,
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