Milchfieber
für dich, das kannst du mir glauben.“
Winkler hatte sich Zuspruch erwartet und Unterstützung der Polizei, stattdessen wollte Weber ihn hinauskomplimentieren: „Wenn weiter nichts ist“, meinte er, „ich habe viel zu tun“, und zeigte zur Tür.
„Kann ich sie als vermisst melden?“, Winkler hatte plötzlich eine Eingebung.
„Hhm“, der Polizist wog den Kopf hin und her, „das ginge natürlich schon. Seit wann ist sie denn verschwunden?“
„Seit zwei Wochen“, sagte Winkler ohne Regung.
„Gut!“, sagte Weber, „das machen wir. Vielleicht bekommen wir so heraus, wo sie steckt und du kannst ein wenig von deinem Geld wieder bekommen. Aber ganz koscher ist das nicht, das muss ich dir sagen. Ich weiß von der ganzen Sache nichts, ich hoffe, das ist klar.“
Winkler nickte.
„Das geht heute noch raus“, sagte der Polizist und füllte das Formular aus. „Auch online.“
Winkler war mit sich zufrieden. Die Vermisstenanzeige, fand er, war eine geniale falsche Fährte. Sie verschaffte ihm vielleicht ein paar Tage Zeit, in denen er sein nächstes Problem lösen musste:
Wohin mit Lissys Leiche?
Allmers war noch nie in Wiebkes Wohnung gewesen. Die kurzfristige Heirat hatten sie verschieben müssen, sie beschlossen aber, keine Nacht mehr alleine zu verbringen. Allmers half Wiebke beim Umzug, sie hatte am Tag nach dem Beschluss, zusammen zu bleiben, ihre Wohnung gekündigt. Allmers schwebte, seine Traurigkeit und sein mangelnder Antrieb waren verschwunden. Selbst seine Trauer über Hella Köhlers Tod wurde langsam weniger.
Zu ihrer Beerdigung, die einige Zeit vor Wiebkes entscheidender Frage stattgefunden hatte, kamen viel mehr Menschen als die Friedhofskapelle fassen konnte, die Bäcker des Dorfes hatten sich sogar entschlossen, gemeinsam in ihrer Berufskleidung und Trauerflor zu erscheinen, um Hella, die ihr Leben lang auf die Bäcker geschimpft hatte, zu ehren. Martin Rauschenbach, dem die größte Bäckerei im Dorf gehörte, hatte jahrelang kein Wort mit ihr geredet, nachdem er herausbekommen hatte, dass seine Frau mehrmals Kuchen bei Hella bestellt hatte, da ihr die von ihrem Mann nicht geschmeckt hatten. Hella hatte diesen Triumph still genossen, hatte nie jemanden etwas davon erzählt, die Geschichte des blamierten Bäckers machte aber schnell die Runde im Dorf.
Friedel hatte sich bei Allmers eingehängt, als die Trauergemeinde zum Grab ging. Er war fahl und eingefallen und Allmers hatte Angst um ihn. Die Trauergemeinde erfüllte nur widerwillig Hellas letzten Wunsch. Sie hatte schon lange vor ihrem Tod festgelegt, dass an ihrem Grab „Geh aus mein Herz und suche Freud“ gesungen werden soll. Und zwar, so hatte sie deutlich gemacht, laut und aus voller Kehle. Sie konnte das Gepiepse, wie sie es nannte, auf Beerdigungen nie leiden. Allmers hatte mit den Kindern der Köhlers drei Strophen ausgewählt, die etwas mit der Landwirtschaft zu tun hatten. Als die Trauernden schließlich „Der Weizen steht in voller Pracht“ schmetterten, fing Allmers laut an zu weinen und konnte die Tränen während der ganzen Beerdigung nicht mehr bändigen. Sie liefen ihm in Strömen über das Gesicht. Ihm war noch einmal klar geworden, wie gewaltig ihn der Verlust getroffen hatte.
Ein paar Tage nach der Beerdigung ließ Friedel Köhler alle Kühe abholen, die meisten kamen zum Schlachter, nur drei oder vier wurden an einen Nachbarn verkauft. Die Maschinen und Traktoren, viele hatte Köhler nicht, aber sie waren in hervorragendem Zustand, verkaufte er in kurzer Zeit. Alle Nachbarn sahen vorbei und deckten sich ein. Die meiste Zeit verbrachte er bis zu seinem Tod ein Jahr später bei seinen Kindern, schließlich war er so hinfällig, dass er in einem Pflegeheim auf sein Ende wartete. Allmers besuchte ihn ab und zu, schließlich ließ er es sein. Friedel erkannte ihn irgendwann nicht mehr. Mit dem Tod seiner Frau waren auch Friedels Lebensgeister verschwunden.
Bevor Allmers und Wiebke die letzten beiden Kisten aus der Wohnung trugen, schloss sie die Wohnungstür von innen ab.
„Was hast du vor?“, fragte Allmers.
„Man muss sich von Wohnungen wie von Menschen gebührend verabschieden“, sagte sie nur und nestelte an seiner Hose. Allmers grinste: „Wo denn, um Himmels Willen?“, fragte er. „Alles ist ausgeräumt:“
„Dann machen wir halt einen Handstand“, sagte Wiebke ernst und zog sich aus.
Später, als sie erschöpft am Türrahmen lehnten, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Weißt du überhaupt,
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