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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: River
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gegenüber ein anderes Gefühl als blinde Verehrung.

8
     
    A RM WAREN WIR NICHT«, sagte meine Mutter oft über diese Zeit, »wir hatten bloß kein Geld.«
    Ihr zufolge kaufte mein Vater immer dann, wenn es ein bisschen voranging, weitere Kühe oder neue Geräte hinzu. Doch das Einzige, worüber sie sich damals beklagte, war, dass es kein »anständiges Familienfoto« gab.
    Mein Vater ließ sich schließlich erweichen, und das Resultat seiner Kapitulation bewahre ich immer noch in einem Schuhkarton auf, zusammen mit den Schnappschüssen, die ich, wie ich mir immer wieder vornehme, irgendwann in ein Album kleben werde.
    Das Familienporträt wurde von einem reisenden Fotografen aufgenommen. Jedes Jahr im September oder Oktober tauchte ein breiter blauer Kleinbus, ein mobiles Fotoatelier, auf dem unbebauten Grundstück neben der Texaco-Tankstelle an der Main Street auf. Es trieb Jeffrey Mann, den Fotografen vor Ort, zur Weißglut, dass die Leute vor dem Minibus Schlange standen. Jedes Jahr klagte er allen, die ihm zuhörten, sein Leid darüber, dass »diese Vagabunden in der Stadt auftauchen und mir das ganze Weihnachtsgeschäft vermasseln«.
    An einem Herbstnachmittag 1965, also in dem Jahr, bevor River kam, hielt mein Vater, der gerade aus der Stadt zurückgekehrt war, Mom einen Handzettel hin. »Was hältst du davon, Nettie?«
    Mom nahm die glänzende Reklame in die Hand und studierte die Preise. »Nicht übel«, überlegte sie. »Sie haben sogar abgepackte Weihnachtskarten«, fügte sie wehmütig hinzu. »Aber ich finde es einfach nicht richtig, Jeffrey das Geschäft zu verderben.«
    »Wie sollten wir ihm denn sein Geschäft verderben, wenn wir es uns sowieso nicht leisten können?«, fragte mein Vater. Ich beobachtete, wie meine Mutter gegen die Versuchung ankämpfte, endlich ein Familienporträt zu bekommen.
    Zwei Tage später standen wir im Schutze der Dunkelheit vor dem geparkten Kleinbus und warteten darauf, dass wir an die Reihe kämen, uns vor der Kulisse mit dem blauen Himmel und den duftigen Wolken aufzubauen.
    Später wurde Mom wegen ihres Treuebruchs von Gewissensbissen geplagt. Wenn die Manns auf einen Besuch zu uns herauskamen, nahm sie das Bild vom Klavierdeckel und versteckte es im Schlafzimmer. Aber ein schlechtes Gewissen ist, wie Mama Cooper zu sagen pflegte, »kein sanftes Ruhekissen«, und meine Mutter, die keine berechnende Frau war, verschickte in diesem Jahr ihre einzigartigen neuen Weihnachtskarten wie in jedem Jahr. Nachdem sie sie unterschrieben und abgeschickt hatte, fiel ihr siedend heiß ein, dass sie auch eine für Jeffrey und June Mann eingesteckt hatte, und sie war am Boden zerstört.
    Für das Familienporträt hatten wir uns alle in unseren Sonntagsstaat geworfen. Doch immer wenn ich es mir anschaue, sehe ich vor meinem geistigen Auge einen Brandfleck hinten auf Boyers Hemd. Bevor wir an jenem Abend in die Stadt fuhren, überraschte er mich, als ich, in Tränen aufgelöst, vor dem Bügelbrett stand. »Ich habe ein Loch in dein Hemd gebrannt«, jammerte ich und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Nicht dass ich Angst gehabt hätte – Boyer war niemals böse auf mich. Aber der Gedanke, ihn zu enttäuschen, war mir schrecklich, und ich hatte soeben sein Lieblingshemd kaputt gemacht.
    »Es ist doch nur ein Hemd, Natalie«, sagte Boyer sanft. »Es lohnt sich nicht, deswegen zu weinen.« Er reichte mir sein Taschentuch. »Außerdem«, fügte er hinzu, während er sich das versengte Hemd besah, »nehmen sie das Foto doch von vorn auf.«
    Jeder, der das Bild betrachtete, lächelte angesichts des Mischmaschs von Gestalten, aus dem unsere Familie bestand. Mom und ich saßen auf einer Bank, Dad und die drei Jungs standen hinter uns. Boyer war damals zweiundzwanzig und mit seinen blonden Haaren und blauen Augen der Einzige von uns, der Mom wirklich ähnlich sah. Bis auf die Größe. Er maß einen Meter dreiundachtzig, gut fünf Zentimeter mehr als Dad, der rechts von ihm stand.
    Dad hatte markige Gesichtszüge und sah aus wie ein knittriger John Wayne. Morgan und ich hatten seine dunklen Augen und sein braunes Haar geerbt – »Mäusedreckbraun« nannte mein Vater diese Farbe.
    Morgan stand auf der anderen Seite von Dad mit den gleichen lachenden Augen, dem gleichen spitz zulaufenden Mephisto-Haaransatz und dem gleichen starken Kiefer. Aber im Gegensatz zu Dad war er klein und stämmig. Mit siebzehn maß Morgan nur einen Meter siebenundsechzig. Er sollte nicht mehr weiter wachsen. Carl

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