Mina (German Edition)
mit den Schultern. „Nein. Tut mir leid, Mama.“
„Nicht schlimm.“
„Nicht?“
„Gar nicht, Mina. Ich habe, ehrlich gesagt, überhaupt nicht damit gerechnet, dass du dort bleiben willst. Na komm: kuscheln!“
Ich kuschelte mich in ihren Arm. Ich erzählte ihr von Steepy und Malcolm und den anderen. Ich sah, wie Karl uns im Rückspiegel anlächelte. Ich schloss meine Augen und sah meinen Papa vor mir, wie er da in dem knisternden Sonnenlicht stand.
Eines Tages werde ich ihr davon erzählen, aber jetzt noch nicht. Wenn ich heute daran zurückdenke, habe ich den Verdacht, dass meine Mama an diesem Nachmittag auch ein Geheimnis hatte. Ich weiß noch, wie glücklich sie sich anfühlte. Ich weiß noch, wie sie vor sich hin lächelte, während wir über den Fluss fuhren. Hatte es etwas mit Colin Pope zu tun? Hatte sie die Gelegenheit wahrgenommen, um an diesem Tag, an dem sie ihre merkwürdige Tochter ein paar Stunden lang losgeworden war, mit ihm zusammen zu sein? Ich denke schon.
Und so verlasse ich den Baum und gehe wieder ins Haus. Mama sitzt am Tisch und liest etwas über die Antarktis.
„Hallo“, sagt sie.
„Hallo.“ Ich hole tief Atem. „Ich erinnere mich an Colin Pope“, sage ich.
„Tatsächlich?“
„Ja. Und ich erinnere mich auch daran, dass er einen sehr netten Eindruck gemacht hat, Mama.“
Sie lächelte. „Gut. Er ist wirklich sehr nett.“
„Und“, sage ich leise, „ich finde, dass du sehr mutig bist.“
Sie lachte. „Bin ich nicht“, sagte sie. „Aber trotzdem danke, Liebes.“
Auf der nächsten Seite befindet sich die Geschichte, die ich in der Corinth Avenue erfunden habe. Es ist eine leere Seite ohne Worte. Die Seite ist wie Steepys Rücken, der auf neue Tätowierungen wartet. Sie ist wie ein leerer Himmel, der darauf wartet, dass ein Vogel darüber fliegt. Sie ist so still wie ein Ei, aus dem irgendwann ein Küken schlüpft. Sie ist wie das Universum, ehe die Zeit begann. Sie ist wie die Zukunft, die darauf wartet, zur Gegenwart zu werden. Schau dir diese Seite genau an. Sie kann mit Erinnerungen gefüllt werden, mit Tragödien, Träumen, Bildern und Visionen. Sie ist voller Möglichkeiten, und deshalb ist sie auch gar nicht leer.
Küken, eine tödliche Katze und Humpellosigkeit
Das schwarze Tier liegt auf der Lauer. Seid bloß vorsichtig. Denn das schwarze Tier ist in Wahrheit ein schwarzes schwarzes Tier. Es ist eine hübsche, schnurrende Katze namens Wisper, aber es ist auch ein wildes Raubtier, das töten wird, wenn wir ihm die Möglichkeit dazu geben. Der Grund dafür ist, dass die Küken geschlüpft sind!
In dem hübschen Nest liegen drei hübsche, klebrige, fedrige Geschöpfe. Und die Vogeleltern fliegen mit Flöhen und Fliegen in ihren Schnäbeln hin und her, mit baumelnden Würmern, die wie Spaghetti aussehen. Ich bin vorsichtig und still und leise hinaufgeklettert, gerade so hoch, um nach unten schauen und die ganz außergewöhnlich hübschen Geschöpfe sehen zu können. Die Eltern haben mich ausgeschimpft – Kreisch! Kreisch! Kreisch! – und ihre Köpfe schräg gelegt.
Wag es nicht! , schrien sie. Bleib weg! Kreisch! Du bist gefährlich! Kreisch!
Aber die wahre Gefahr kommt von unten. Das schwarze Tier schleicht im Garten umher. Es huscht über den Gehweg. Es tut ganz unbeteiligt und gleichgültig, aber dann bleibt es stehen und lauscht. Ich sehe, wie es den Kopf dreht und das Ohr in Richtung Nest spitzt. Und dann schaut es mich mit flehenden Augen an.
Hallo Mina , schnurrt das schwarze schwarze Tier. Ich bin doch dein ganz besonderer Freund, nicht wahr? Ich bin dein weiches Kuscheltier. Darf ich nicht hinaufkommen und dir Gesellschaft leisten?
Ich schaue böse nach unten und hebe meinen Finger.
Wage es ja nicht, du schwarzes schwarzes Tier. Bleib weg. Du bist gefährlich!
Ich verscheuche den Kater, und er wendet sich ab und stolziert hochmütig davon. Aber schon bald wird er wieder da sein und mich mit bettelndem Blick anschauen und sich das Maul lecken bei dem Gedanken, die hübschen kleinen Geschöpfe zwischen seinen Zähnen zu zermalmen.
Ich sitze immer noch auf dem Baum. Ich rede mir ein, ich sei der Wächter der Küken. Aber das bin ich nicht. Die Wahrheit ist, dass die Küken in ihrem Nest in Sicherheit sind. Sie befinden sich außerhalb von Wispers Reichweite. Er könnte niemals so hoch klettern. Und selbst wenn, dann könnte er auf dem Ast, auf dem sich das Nest befindet, nicht so weit nach vorne laufen, ohne abzustürzen. Das Nest
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