Mina (German Edition)
Sie würden weiterfliegen, würden ihre Nester bauen, ihre Lieder singen, ihre Eier legen und ihre Jungen in den Ruinen der Städte und in den undurchdringlichen Wäldern und auf den überwucherten Wiesen großziehen. Eine neue wilde Welt würde um sie herum erwachsen. Und vielleicht würden sie die Vorfahren von ganz fantastischen, unvorstellbaren Lebewesen sein. Mina sah diese zukünftige Welt vor sich, ein zukünftiger Himmel, bevölkert von herrlichen, vogelähnlichen Wesen, und sie war froh.
Malcolm kam zu ihr und fragte, ob sie sich wohlfühlte. Ja, sagte sie. Er meinte, sie würden am Nachmittag Geschichten schreiben. Das sei doch das Richtige für sie. Sie zuckte bloß mit den Schultern und sagte nichts. Er erzählte ihr, dass er ein Geheimnis habe, das kaum jemand wüsste. Er hatte einen Roman geschrieben und suchte nach einem Verlag, der ihn veröffentlichen würde. Er meinte, es sei so beängstigend, als ob er sich selbst vor der Welt bloßstellen würde. Er fühlte sich sehr dumm und sehr jung.
„Weißt du, was ich meine?“, fragte er.
Sie zuckte wieder mit den Schultern. „Ja“, sagte sie.
„Ich muss wohl einfach meinen Mut zusammennehmen“, sagte er. „Nicht wahr?“
„Wahrscheinlich.“
Er lächelte sie freundlich an. Sie schaute weg.
„Ich halte dich für sehr mutig“, sagte er. „Ich glaube, ihr alle seid mutig, weil ihr hierherkommt, weil ihr versucht, erwachsen zu werden. Das ist schwer, stimmt’s?“
„Was ist schwer?“
„Herauszufinden, wie man wirklich ist.“
Sie nickte.
„Dafür gibt es viele Möglichkeiten und Wege, Mina. Jeder muss seinen eigenen finden. Und weißt du was? Das geht immer so weiter, ein Leben lang.“
Sie sagte nichts. Sie betrachtete einen Taubenschwarm, der eilig über die Dächer flog.
„Es ist nicht schlimm, wenn du meinst, dass das hier nicht der richtige Ort für dich ist“, sagte Malcolm. „Egal, wie du dich entscheidest, wir freuen uns, dich bei uns zu haben, auch wenn es nur für kurze Zeit ist. Es ist schön, ein Teil deines Erwachsenwerdens zu sein.“
Sie schaute auf ihre Füße. „Wie lautet der Titel? Des Romans, meine ich.“
„,Joe Carters Knochen‘. Es geht um einen Jungen, der alle möglichen Knochen sammelt, die er auf der Straße oder auf den Feldern findet – die Knochen von Vögeln, Mäusen und Fröschen. Und er findet auch Federn, Lederflicken, Gras, Blätter, Blüten und Stöcke, alle möglichen Dinge, die einstmals Teil von lebendigen Dingen waren. Er bringt alles in seine Hütte und bastelt daraus Formen, die lebendig aussehen. Er will ihnen wieder Leben einhauchen und versucht, neue Arten von Geschöpfen zu erschaffen.“
„Wie ein Zauberer.“
„Richtig, wie ein Zauberer.“ Malcolm lachte. „Klingt ganz schön bescheuert, was?“
„Funktioniert es?“
„Du meinst, ob er ein neues Geschöpf zum Leben erweckt? Ja, tut er. Was das Buch ganz und gar bescheuert macht. Aber die Geschichte ist ein bisschen so wie das, was sie erzählt. Es sind Stücke und Fragmente, die man zusammensetzt und die dann ein Kunstwerk bilden sollen. Ich habe die Teile des Buches zusammengefügt und versucht, ihnen Leben einzuhauchen. Genauso wie Joe Carter seinen Knochen.“ Wieder lachte er. „Das Buch wird immer wieder abgelehnt. Vielleicht ist es tatsächlich zu bescheuert, als dass irgendein Verlag es jemals veröffentlichen würde. Vielleicht sollte ich das nächste Mal eine Geschichte schreiben, in der alles ganz einfach und verständlich und geradlinig ist. Vielleicht sollte ich ein Buch schreiben, in dem nichts Bescheuertes passiert, was meinst du? Vielleicht am besten gleich eins, in dem überhaupt nichts passiert.“
Sie lächelte bei der Vorstellung. „Glauben Sie, das geht?“, wollte sie wissen. „Eine Geschichte schreiben, in der nichts passiert?“
„Keine Ahnung. Aber vielleicht sollte ich es versuchen. Oder du.“
Und dann klingelte es und sie gingen über den Schulhof zurück in die Klasse.
An diesem Nachmittag schrieben sie tatsächlich Geschichten. Malcolm zeigte ihnen Gegenstände und animierte die Kinder dazu, rund um diese Gegenstände Geschichten zu erfinden. Er hob einen Stift hoch und sagte, er gehöre einem Mädchen namens Maisie, und wenn sie damit schrieb, hatte sie magische Kräfte. Er fragte: „Was für magische Kräfte?“ Und die Antwort tauchte in den Köpfen der Kinder auf.
Dann fragte er nach Maisies Leben – nach dem verletzten Haustier, das sie hatte, als sie sechs war, er
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