Mina_Hepsen_03-Unsterblich wie die Liebe
noch mal. Sie war nicht verrückt. Sie war nicht
verrückt!
Nell presste die
Augen zusammen und ballte die Fäuste.
»ICH BIN NICHT
VERRÜCKT!«
Ihrem Ausbruch folgte
eine geschockte Stille. Niemand rührte sich, während Nell schwer atmend
versuchte, ihre Beherrschung wieder zu gewinnen. Die Augen hielt sie immer noch
geschlossen. Sie wollte ihre Gesichter gar nicht sehen, ihre mitleidigen
Mienen. Ihre Blicke, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten, so wie sie jede
Bewegung ihrer Mutter verfolgt hatten. Diese Blicke, diese Mienen waren es, die Sky
Witherspoon in den Wahnsinn getrieben hatten. Diese Augen, die ihr immer und überall
hin folgten, die alles beobachteten, was sie tat. Diese Augen, die ihre Mutter
umgebracht hatten. Die ihren Vater umgebracht hatten. Und sie allein
zurückgelassen hatten.
Es schien, als ob
eine Ewigkeit vergangen wäre, aber immer noch hatte sich niemand gerührt. Als
Nell es nicht länger aushielt, verzog sie das Gesicht.
»Es tut mir leid, ich
werde jetzt gehen.«
Sie schlug die Augen
auf, aber das, was sie sah, war ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatte.
Man beachtete sie überhaupt nicht. Sämtliche Blicke hingen an der Vase, die
langsam genau dort ausrollte, wo Nell es vorhergesagt hatte.
26. Kapitel
Ich habe zwei von
Patricks Männern zur Bewachung abgestellt. Bei ihnen sind die Gefangenen in
sicherem Gewahrsam.«
Mikhail nickte und
leerte sein Glas Whisky in einem Zug. Er hatte seit einiger Zeit eine Vorliebe
für das schottische Nationalgetränk entwickelt, was natürlich auf Patrick
zurückzuführen war, der nicht nur Oberhaupt seines Clans, sondern vor allem
durch und durch Schotte war - im Gegensatz zu dem Vampir, der nun vor ihm stand
und der durch und durch Osmane war.
»Du musst mir alles
erzählen. Aber zuerst muss ich wissen, ob Nell und die Kinder sicher bei meiner
Schwester eingetroffen sind?« Mikhails Augen wanderten unwillkürlich zu dem funkelnden
Brieföffner, der wieder unschuldig und sauber auf seinem Schreibtisch lag. Der
Teppich war entfernt, die Dielen geputzt und poliert worden. Und offenbar hatte
man auch gleich die Mordwaffe gesäubert. Nein, nicht Mordwaffe. Es war reine
Notwehr gewesen.
»Ja, die Kinder sind
daheim und in Sicherheit. Aber von jemandem namens Nell war nicht die Rede, nur
von einer gewissen Lady Denver«, antwortete Ismail.
»Lady Denver?«
Mikhail runzelte die Stirn. Was hatte Caroline in London zu suchen, und wo war
Nell?
»Ja«, fuhr Ismail
fort, »sie hat die Kinder nach London gebracht. Wir scheinen tief in ihrer
Schuld zu stehen. Sie erzählte, wie schwierig die Reise gewesen sei und wie
anstrengend, mit zwei schreienden Kindern und zwei unfähigen Zofen.«
Zofen. Caroline musste Nell
und Morag meinen. Aber warum seine Nachbarin selbst nach London gereist war,
begriff Mikhail nicht. Ebenso wenig, warum sie sich so abfällig über Nell und
Morag äußerte. Aber er war erleichtert, dass sie es alle sicher nach London
geschafft hatten.
Sein Blick richtete
sich abermals wie von selbst auf den Brieföffner, und er trat unbehaglich von
einem Fuß auf den anderen. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir auf die
Terrasse gehen? Ich habe dort einen kleinen Imbiss vorbereiten lassen. Ich habe
seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen.«
»Selbstverständlich.«
Ismail nickte und folgte Mikhail nach draußen. Dort war tatsächlich bereits der
Tee vorbereitet worden. Beide Männer nahmen Platz.
»Du hast deine Sache
sehr gut gemacht, Mikhail. Die Clans stehen tief in deiner Schuld. Du hast die
Auserwählten beschützt.«
Mikhail nahm sich ein
Gurkensandwich und schob sich das kleine Dreieck in den Mund. Nachdem er gekaut hat te, sagte er: »Das
ist meine Familie, und ich fühle mich für sie verantwortlich. Dass sie
gleichzeitig › Auserwählte‹ sind, spielt keine
Rolle. Kein Mann braucht Dank dafür, dass er seine Familie beschützt.«
Der Osmane nickte
lächelnd. Den angebotenen Imbiss lehnte er höflich ab. Mikhail hatte sich
derart an die Gesellschaft von Vampiren gewöhnt, dass er manchmal vergaß dass
sie ja nichts aßen. Nicht dass sie nichts essen konnten, sie wollten nur
gewöhnlich nicht, da ihnen Blut -Tierblut - alles gab, was sie brauchten.
»Du sagst, dass die
Gefahr vorüber sei. Heißt das, ihr habt alle Anhänger der Wahren Vampire
entlarvt?«
»Ja. Zumindest jene,
von denen wir glauben, dass sie hinter den Anschlägen auf die Auserwählten
stecken. Einige von ihnen scheinen auch menschliche
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