Mindhunter - Tödliche Gabe (German Edition)
anerkannte Geschäftspraxis ist, fange ich vielleicht selbst damit an.«
Er zeigte zum anderen Ende des Flurs. »Die Gebührenkasse ist die erste Tür rechts. Da gibt es öffentliche Internetplätze, wo Sie das Online-Formular öffnen und sich die fünfzig Piepen sparen können.« Er blickte auf seinen Computer hinunter, tippte auf ein paar Tasten und hob dann die Stimme. »Nummer 718.« Er sah auf, als sie immer noch stehen blieb. »Bitte treten Sie zur Seite, Miss.«
So einfach konnte Anna nicht aufgeben. Statt zur Seite zu treten, beugte sie sich nach vorne. »Finden sie das wirklich in Ordnung so?«
»Treten Sie zur Seite, Miss.« Jeder Anflug von Menschlichkeit, den sie in seinen Augen gesehen hatte, war verschwunden.
Anna rührte sich und sagte: »Für mich ist das alles andere als in Ordnung.« Trotzdem griff sie in ihren Rucksack nach ihrer Geldbörse und der Kreditkarte, die schon fast am Limit war, und lief hastig den Flur entlang.
Was die Jobsuche anging, unterschied Boston sich in nichts von New York, Chicago oder Dallas, nicht mal von Phoenix.
Es spielte keine Rolle, wohin Shane Laughlin ging, da er nun mal auf der schwarzen Liste stand – egal, ob es ihm mit dem starken Akzent der Bronx oder dem der Upper Class gesagt wurde. Und wenn einen die Konzerne, die praktisch die Regierung stellten, einmal auf diese Liste gesetzt hatten, dann stellte einen niemand mehr ein. Da spielte es auch keine Rolle, dass jeder, der nach dem letzten Börsenkrach noch halbwegs ein Vermögen besaß, Schutz vor all den Schrecken der Nacht benötigte.
Shane war schlicht unerwünscht. Zumindest, solange es um etwas Legales ging.
Zusätzlich zur Absage gab es in Boston offenbar noch eine Abreibung als kostenlose Dreingabe. Drei sehr große, stiernackige Männer waren Shane gefolgt, als er das Personalbüro der Sicherheitsfirma verlassen hatte. Zwei schlurften auf dem aufgeplatzten, löchrigen Bürgersteig hinter ihm her, und einer hatte eilig die Straße überquert – zweifellos, um ihm den Weg abzuschneiden, wenn er zu flüchten versuchte.
Und da vorne kamen aus einer schmalen, spärlich durch eine flackernde Straßenlaterne beleuchteten Gasse noch zwei ähnliche Gestalten. Shane hätte sein früheres Monatsgehalt verwettet, dass sie alle fünf ehemalige Marines waren.
Was allerdings bedeutete, dass diese Abreibung nichts mit einer schwarzen Liste zu tun hatte, sondern eher damit, dass er ein ehemaliger Navy SEAL war. Rivalitäten zwischen der Navy und den Marines konnten ziemlich heftig werden. Obwohl die Marines, technisch betrachtet, zur Navy gehörten. Aber zwischen beiden hatte schon immer eine ziemlich dysfunktionale, stiefgeschwisterliche Beziehung geherrscht, die in dem Augenblick begonnen hatte, als irgendein Kapitän der US-Navy gesagt hatte: Hey, ich hab ’ne tolle Idee. Wie wär’s, wenn wir die Decks unserer Schiffe mit Soldaten vollpacken, die die Küsten stürmen und den Feind an Land bekämpfen, weil, ehrlich gesagt, werden diese Seegefechte langsam lästig. Und, ach ja, wir nennen sie Marines verpassen ihnen lächerliche Haarschnitte, damit ihre Ohren besonders dämlich abstehen. Und unserer Besatzung sagen wir, dass sie sie ruhig wie Dreck behandeln können …
Die Ex-Marines auf zwölf Uhr taten so, als machten sie einen Schaufensterbummel, die Hände in den Jackentaschen und die Schultern hochgezogen, um sich vor dem feuchten Frühlingswind zu schützen. Vielleicht hätte Shane sich ja auch an der Nase herumführen lassen und weiter keinen Verdacht geschöpft, wenn das Schaufenster zu einem Pfandleihhaus gehört hätte oder vielleicht zu einer altmodischen Videothek, die sich auf Pornos spezialisiert hatte.
Aber an der Ecke befand sich ein CoffeeBoy – einer der wenigen Coffee-Shops, der sich in diesem ärmlichen Stadtteil gehalten hatte, vermutlich auch nur, weil eine Armee von Koffein saufenden Hünen hier regelmäßig vorbeimarschierte, um sich den wöchentlichen Gehaltsscheck bei der Sicherheitsfirma abzuholen.
Shane legte an Tempo zu, und tatsächlich, als er in einen raschen Laufschritt verfiel, nahmen die beiden Männer hinter ihm die Verfolgung auf. Auch die beiden vor ihm gaben nicht länger vor, von der Werbung für diverse Varianten von Eiskaffee fasziniert zu sein, die garantiert seit einem Jahrzehnt in diesem Fenster hing, seit der Zeit, als es bei CoffeeBoy noch saisonal variierende Angebote gegeben hatte. Heute hatte man bei dem Riesen-Kaffeekonzern nur noch die Auswahl
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