Mingus
und ihn bemalt. Auch er spricht nicht, sondern schaut mich an. Seine Augen sind schmal, wie Blätter, und sie glitzern, wie der goldene Vogel auf seiner Stirn. Sie sagen, er heißt Nin. Er ist kein Mann wie ich und Papa. Er ist eine Frau wie Tara. Das weiß ich jetzt. Ich weiß nicht, was das heißt, ich weiß nicht, ob ich das glauben soll. Ich will näher zu ihm, aber Tara hält mich fest. Er ist nicht da oben in dem Fenster, genauso wenig wie ich vorhin in dem Fenster war. Das ist ein Foto, wie die Fotos, die Papa gemacht hat von mir, aber das Foto bewegt sich, als wäre es am Leben. »Ist er tot?«, frage ich Tara. »Sie!«, sagt Tara. »Sie! Und sie ist nicht tot, sie ist ganz bestimmt jetzt bei ihren Eltern. Es geht ihr gut.« Aber so sieht er nicht aus, der kleine Bruder. Ich weiß, wie er aussieht, wenn es ihm gut geht.
»Ich gehe jetzt zu ihm«, sage ich. »Zu ihr! Wo ist sie?« Ich schubse die Menschen, die mir im Weg stehen, zur Seite. Es fehlt nicht viel, und ich brülle.
»Bist du verrückt geworden?«, ruft Tara. »Das geht nicht.« Sie packt mich am Arm. »Sie werden dich fangen und zurückbringen, dorthin, wo du schon warst, du weißt, wohin. Willst du das?« Ich will das nicht. »Außerdem ist sie in der Oberstadt, da kommt keiner rein, verstehst du? Keiner!«, sagt Tara. Sie ist ganz wütend.
»Ich schon«, sage ich.
Sie lacht, aber nicht, weil sie lachen will, eigentlich will sie heulen. Das macht sie oft. »Wir wissen nicht mal, wo genau sie ist, wo ihr Haus ist. Vielleicht ist sie auch ganz woanders.«
»Ich finde ihn!«, sage ich und mache mich los.
»Na, dann geh doch!« Tara lässt mich stehen und drängt sich rücksichtslos durch die schimpfenden Menschen. Und ich, ich dränge ihr nach. Ich fühle mich nicht gut, allein zwischen diesen Menschen. Oben spricht jetzt ein Mann. Auch dieses Gesicht habe ich schon gesehen, und ich zittere, obwohl mir nicht kalt ist. Es ist einer von denen. Er hat mir wehgetan. Da ist ein anderer Mann neben ihm.
»Da ist Boris«, sagt Tara. »Ich kenne diesen alten Idioten.«
Wir gehen nach Hause, zu Tara. Wir sprechen kein Wort miteinander. Ich habe Hunger. Ich habe immer Hunger.
Ich will nicht bei Tara bleiben. Ich spüre, wie ich zurückrutsche in die Zeit, aus der ich komme. Es ist wie mit Papa. Alles ist wie früher. Ich bin in einem Raum gefangen, undich kriege Essen und alles, aber ich darf nicht das tun, was ich will. Ich denke an die langen friedlichen Tage im Wald, mit dem kleinen Bruder. So will ich wieder sein.
Vom Balkon aus sehe ich jeden Tag, weit weg, drüben diese Bäume. Bäume, bei denen ich noch nie war. Tara sagt, das sei nicht gut, dorthin zu gehen. Sie hat immerzu Angst davor, dass sie mich einfangen. Ich habe keine Angst, aber ich will auf eine gute Gelegenheit warten, um mich dorthin zu schleichen. Vielleicht nachts. Aber ich tue es nicht. Etwas hält mich zurück.
Die Bäume färben sich gelb und rot. Ich schaue jeden Tag nach ihnen. Dann sind sie plötzlich grau und wie ein struppiges Fell. Sie habe ihre Blätter abgeworfen, und es wird Winter, sagt Tara. Und es wird kalt. Ich friere nicht, aber Tara friert. Sie zieht viele Sachen an und sieht aus wie ein Sofa. Sie sagt, wir haben genug Vorräte, aber ich glaube das nicht. Sie hat Angst, ich will mit ihr losziehen, um Holz aus den leeren Häusern zu holen und Sachen zu essen, die sie dort manchmal findet. Keine guten Sachen. Ich bleibe in unserem Zimmer und versuche zu schlafen. Ich kann das, aber es ist nicht schön. Ich bin wieder in den Händen dieser Menschen, die mich packen, binden, mit Nadeln stechen, die mich betasten und herumstoßen. Vielleicht hat Tara mich angesteckt mit ihrer Angst.
Das Licht ist anders an diesem Morgen. Ich wache auf und weiß nicht gleich, wo ich bin, aber ich höre draußen die Vögel flattern, springe auf und laufe durch die vielenTüren und die Treppen hinunter, um zum Balkon zu kommen. Mein Frühstück wartet dort. Es flattert. Tara wacht nicht auf, sie liegt in ihrer Ecke und rührt sich nicht.
Alles draußen ist weiß. Der Balkon, der Hof drunten, der Wald drüben, die flachen Dächer, die Ruinen, die Straße. Ich weiß, was das ist. Ich habe es in den Büchern gesehen. Schnee. Es ist kalt. Ich atme Rauch. Unter meinen Sohlen macht der Schnee ein schönes Geräusch und wird weich, wird zu Wasser, und ich sehe die Abdrücke meiner Schritte. Ich strecke mich aus in dem Weiß wie auf einer Wiese. Ich fühle es am ganzen Körper. Er kribbelt.
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