Mingus
hingeschmissen. »Wo kommst du her?«, fragt sie, und ich sage, ich kann mich an nichts erinnern. Da ist nichts als ein schwarzes Loch. Sie glaubt mir nicht, aber sie fragt nicht weiter. Sie schaut mich an und nickt. Sie ist ganz anders als Papa, aber dumm ist sie nicht, und sie will mir helfen. Ich weiß nicht, warum. Trotzdem bin ich immerzu auf der Hut. Und so vergehen meine Tage.
Ich bin auch immerzu müde, und ich habe immerzu Hunger. Vielleicht weil wir kein Fleisch haben. Ich habe schon überall in dem großen Haus danach gesucht. Ich würde es sofort riechen. Ich denke immerzu an Fleisch.
Sie geht weg und kommt zurück mit Körnern und Kräutern. Sie geht, und ich sehe sie unten zwischen den kaputten Häusern verschwinden, ihr blaues Kopftuch. Ich fange ein paar von den Vögeln, die auf den Stangen vor dem Fenster sitzen, und fresse sie hastig und gierig. Die Vögel sind blöde und langsam. Trotzdem glaube ich, Tara würde es nicht gut finden, doch sie würde mich nicht schlagen. Das sehe ich an ihren Augen. Außerdem bin ich viel stärker als sie.
Ich weiß nicht, was sie mit dem kleinen Bruder gemacht haben. Manchmal, nachts, glaube ich, ich höre ihn weinen. Die Wut hockt in mir wie ein Schmerz.
Tara will mich mitnehmen, hinaus in die große Stadt. Ich kann es nicht erwarten. Sie hat diese Mütze für mich gemacht, aus Fäden, mit zwei kleinen Stäbchen. Sie nennt es Stricken. Sie ist erstaunt, wie schnell ich alles, was sie macht, verstehe. Sie setzt sich vor mein Lager und liest mir vor. Ich weiß, was Bücher sind. Papa hatte Bücher, und auch er hat mir vorgelesen. Ich kann nicht lesen, ich kann auch nicht schreiben. Papa wollte das nicht. Tara zeigt es mir. Sie gibt mir einen dicken Brocken roter Farbe, den ich halten kann. Ich darf ihn aber nicht essen. Es gefällt mir, die Zeichen zu machen, die sie mir zeigt. Ich mache den ganzen Boden voller Zeichen, in dem blauen Zimmer, in dem die Bücher liegen. Wenn ich fertig bin, wischt Tara alles aus,und ich fange wieder an. Sie sagt, wenn ich alle Zeichen kann, werde ich wissen, was unter den Bildern steht in den Büchern. Ich sage, das kann ich schon, aber ich rate nur. Tara lacht. Ich habe Papas Bücher immer wieder angeschaut, aber Tara hat schönere Bücher. Ich warte, bis sie mir vorliest, am frühen Morgen, wenn die Sonne hereinscheint. Wir dürfen keine Kerzen verschwenden.
Tara macht meine Fingernägel kürzer und runder. Es ist jetzt schwer, sich damit zu kratzen. Sie sagt, sie kratzt mich, wo ich nicht hinkomme. Wir lachen. Sie sagt, wenn ich lache, klinge ich wie eine alte Maschine, die nicht richtig in Gang kommt. Sie sagt, früher gab es Maschinen, in die man sich setzen konnte und die dann herumfuhren mit einem, ganz wie man wollte. Heute fliegen sie. Ich sehe sie aus dem Fenster. Sie glänzen und sind sehr schön. Ich hätte Lust, sie vom Himmel zu schnappen, so wie ich die Vögel im Flug erwischen kann, mit einer einzigen schnellen Bewegung.
Die Mütze mag ich nicht. Ich muss sie tragen, damit mich niemand erkennt. Wir gehen zum Avatar, dem großen Platz. Ich habe die Mütze auf. Nur die Augen schauen heraus. Sie hat keine schöne Farbe. Wir schlängeln uns durch die Menschen, es ist ein bisschen so, als dränge man sich durch einen dichten Wald mit lebenden Stämmen – nur nicht so schön. Wir stehen eingeklemmt zwischen den Menschen, die um uns herum drängen, schreien und uns wegschieben, uns grob anstoßen. Keiner schaut uns ins Gesicht. Keiner redet mit uns. Ich aber spüre alle Haare auf meinem Körper. Jedes einzelne Haar. Diese Menschenriechen. Tara hält mich am Arm, ganz fest. Sie will nicht, dass ich meine Wut zeige. Sie will, dass ich ganz ruhig bleibe und neben ihr stehe, wie ein lebloses Ding. Sie will mir etwas zeigen.
Über dem Platz ist ein großes Fenster mit riesigen Gesichtern, sie sprechen zu uns, laut. Ich verstehe fast alles, was sie sagen. Dann sehe ich mein Gesicht, riesengroß und ganz deutlich, jeder schwarze Tupfer auf meiner Schnauze und jedes gebogene Haar, das daraus wächst. Ich spreche nicht. Ich sehe krank aus. Ich habe mich noch nie von der Seite gesehen. Meine Haare sind borstig und stehen wild um meinen Kopf. Ich fasse unter die Mütze und berühre meine Haare im Nacken. Tara fängt meine Hand und hält sie fest. »Lass das!«, murmelt sie, »Hör auf !« Aber ich höre nicht richtig zu. Der kleine Bruder. Ich sehe sein Gesicht, es füllt das ganze Fenster aus. Sie haben seine Haare abgeschnitten
Weitere Kostenlose Bücher