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Mingus

Mingus

Titel: Mingus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keto von Waberer
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hintereinander!
    Ich mache die Augen zu, ich halte mir die Ohren zu. Ich umklammere mit meinen Schenkeln den Ast. Mir ist eiskalt. Wasser rinnt aus meiner Nase, über meine Oberlippe. Ganz fern höre ich mich wimmern und schniefen. Ich lege mein Gesicht an die Baumrinde, und nur mit Mühe halte ich mich davon ab, loszuschreien.
    So klammere ich mich an den Stamm, ich weiß nicht, wie lange. Mein Gesicht voller Harz. Dann ist die Wiese leer, der Löwe steht im vollen Sonnenlicht und glänzt überirdisch. Ich krieche wie eine müde alte Frau vom Baum herunter.
    Alles, was ich will, ist, rasch zurückzulaufen zu unserem Zelt und zu Tara. Ich muss sie umarmen. Das, was ich gesehen habe, kann ich nicht alleine tragen.

MINGUS
    Die Löwenwiese finden wir erst am späten Nachmittag. Geduckt im Unterholz halten wir hier eine Weile Ausschau, aber kein Mensch ist zu sehen. Es riecht nach Tod. Der Löwe sieht aus, als schwebe er auf seinem Podest über den silbernen Halmen, durch die der Wind fährt. Er glänzt im Nachmittagslicht. Große braune Vögel umflattern ihn mit zischenden Schreien. Sie hocken hier überall im Gras und kämpfen miteinander, aber wir sehen nicht, um was sie sich balgen.
    »Geier«, sagt Aglaia.
    »Aas«, sagt Aglaia.
    Sie ist ganz blass, und diesmal hat sie nichts weiter zu sagen. Sie will näher herankriechen, aber das lasse ich nicht zu.
    Gonzo ist seit heute Mittag verschwunden. Auch Matt ist verschwunden.
    »Hast ihn nicht richtig festgebunden«, sagt Aglaia wütend. »Ich hätte es tun sollen, ich hätte es mir denken können.«
    Aber Matt ist mir gleichgültig. Er hat uns genau beschrieben, wo wir suchen müssen. Wir haben die Wiese gefunden. Also was soll’s?
    »Gonzo kommt zurück«, sage ich. »Er kommt zurück. Ich geh nicht ohne ihn. Was willst du jetzt machen?«
    Matt sagte, der Präsi käme jeden Tag zu dieser Wiese, um den Löwen anzubeten. Das ist ein Rätsel, und auch Aglaia kann sich keinen Reim darauf machen. Warum macht er das? Was treibt er hier?
    Ich habe genug. Ich will weiter. Ich will von hier verschwinden, aber ich kann Aglaia nicht so zurücklassen. Ich spüre ihre Verwirrung. Sie ist ohne Plan. Sie will die Heldin spielen. Ich will das nicht. Die große Heldin! Ihre Wut macht sie dumm.
    »Wir müssen versteckt am Rand der Lichtung auf ihn warten. Wenn er allein kommt, wie dieser elende Matt sagt, müssen wir zuschlagen.«
    Ich sage kein Wort. Ich sage nicht, dass dann die Robos überall hier im Wald sein werden. Ich sage nicht, dass sie keine Chance hat. Sie kommt nicht mal in seine Nähe.
    Am Abend, als ich zurückkomme vom Fluss, vom Baden, mit frischen Fischen beladen und mit Wasser, ist auch Aglaia verschwunden. Sie hat keinen Proviant mitgenommen. Ich finde ihr Schwert, versteckt unter den Matten. Das Feuer ist ausgegangen, und ich zünde es wieder an, wickle den Fisch in Blätter und lege ihn in die Glut.
    Der Himmel färbt sich rot, der Mond geht auf, er ist fast rund. Wenn sie den Fisch riecht, wird sie kommen, denke ich, aber ich weiß, sie wird nicht kommen. Sie ist alleine losgegangen, die Irrsinnige, aber warum ohne ihr Schwert?

TARA
    Den ganzen Tag braucht Nin, um sich zu beruhigen. Ich begreife nicht, was sie so mitgenommen hat. Eine Ahnung, sagt sie, eine dunkle Ahnung. Ihr Schicksal entscheidet sich dort, lauert auf sie, dort auf der Wiese. Der Tod, sagt sie. Schon gut, diese jungen Frauen halten rein gar nichts aus.
    »Du hast gesehen … du hast den Präsi gesehen, so wie er ist, wie er immer schon war. Ein Mörder, ein Scheusal. Das war eine Hinrichtung im Präsi-Stil. Wahrscheinlich verspricht er sich Jagdglück von diesem barbarischen Blutbad. Wahrscheinlich wird alles live zum Avatar übertragen. Es gibt viele, die sehen so was gerne, glaub mir.«
    »Unser Präsi, lang möge er leben …« Nin weint. »Er hält meine Eltern gefangen. Weißt du, dass mein Vater praktisch sein Freund war oder fast sein Freund. Weißt du, dass Mama ihn lange Zeit unterstützt hat?«
    »Ich habe gesehen, wie er Menschen aufgereiht hat und wie er … eigenhändig …«
    »Sei still!«, ruft Nin. »Wir müssen ihn stoppen. Irgendwie stoppen. Ich halte das nicht aus.« Sie weint.
    Mir ist nicht gut, aber ich reiße mich zusammen.
    »Heute Nacht gehen wir hin«, sage ich. »Es ist Vollmond, und wir finden uns zurecht. Ich kann sehr wohl auf Bäume klettern, was meinst denn du? Ich bin in Topform. Habimmer alle möglichen Turnereien mitgemacht, das ganze verfluchte Training im

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