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Mingus

Mingus

Titel: Mingus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keto von Waberer
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Frieder. »Sie weiß, was sie will, sie hat eine starke Vision. Sie ist dazu geboren zuherrschen.« Er schaut in die Runde, aber niemand sagt etwas, nur Irina nickt.
    »Sie wäre eine gute Präsidentin für uns alle. Denkt an meine Worte.«
    Aber er bekommt keine Antwort von uns.

AGLAIA
    Tagelanger Flug. Unruhige Nächte. Ich kann kein Auge zutun. Immerzu lausche ich hinaus in das Dunkel. Immer habe ich geglaubt, ein Naturkind zu sein, nun weiß ich es, die Stille bedrückt mich, die Wildnis ängstigt mich.
    Die verlassenen Dörfer, die Ruinen, die wir überfliegen, machen mir das Herz schwer. Alles muss wieder besiedelt werden. Man muss die Rückzucht der Tiere vorantreiben, sofort. Hier in der Nacht hört man nur Insekten singen und schnarren. Es gibt Milliarden von ihnen. Sie krabbeln und fliegen überall herum. Wir essen sie. Mingus besteht darauf. Sie sind gar nicht so schlecht. Knusprig gebraten mit wildem Chili oder die weich gekochten Raupen als Aufstrich für unser Dauerbrot, das immer weniger wird.
    Mingus ist glücklich. Zum ersten Mal sehe ich ihn wirklich glücklich – hier draußen – unter freiem Himmel, zwischen den verkrüppelten Bäumen, in den wispernden gelben Schilffeldern, im staubenden Felsgeröll. Den ganzen Abend scherzt er mit Gonzo, dann schläft er neben mir wie ein Stein. Er knurrt, wenn ich ihn aus Versehen anstoße. Ich liebe seinen Geruch. Seine Bewegungen im Schlaf, seine Brüllerei, wenn er voller Leben aufspringt und sich am Morgen streckt. Er ist das vollkommenste Geschöpf, das mir je begegnet ist – verdammt! Ich klinge schon wie eine Ama. Mein großes Opfer für mein armes Volk wirdsein, dass ich dieses herrliche Wesen zu meiner Waffe mache, gegen den Tyrannen. Ich sage mir, dass er dabei nicht sterben muss, ich sage mir, dass er leben und mit mir eine neue Welt erschaffen wird. Die grausamen Bilder seines Todes, die immer gegenwärtig sind, schwächen mich, stimmen mich weich und sehnsüchtig. Meine Zärtlichkeit für ihn raubt mir oft alle Kraft. Ich zeige ihm nichts davon. Ich halte alles in mir verschlossen, nur nachts, manchmal, wenn ich neben ihm liege und die Insekten in den Büschen kreischen, erlaube ich es mir, meine Trauer zu fühlen. Eine entsetzliche Trauer, so als wäre ich es, auf die der Tod wartet.
    Gonzo sagt: »Da unten sind Menschen. Zwei.« Und wirklich sehe ich einen Feuerschein zwischen den Felsen. Wir fliegen eine flache Kurve und landen in einer Schlucht ganz in der Nähe. Der Präsi ist das nicht. Nie wäre er so allein hier draußen in der Wildnis.
    »Wir müssen uns das ansehen«, sage ich zu Mingus, der neben mir döst. »Zwei Menschen, hier … was hat das zu bedeuten?«
    »Morgen«, sagt Mingus. »Ich schleiche mich hin. Ich und Gonzo.«
    »Ich komme mit«, sage ich.
    Gonzo führt uns durchs zähe Gestrüpp am Rande der Schlucht, über Felsen und durch Akaziengehölze. »Ein Chopper, nein, ein großer Flughund«, sagt er. »Da hinten, er ist noch warm.«
    Ich sehe nichts, aber Mingus hat Witterung aufgenommen.»Ich sehe ihn. Zugedeckt, und da drüben das Zelt. Los!«
    Wir kriechen das letzte Stück auf allen vieren, ducken uns hinter die Felsen. Warten. Lauschen. Mingus hört etwas. Er hört und sieht besser als jeder Mensch.
    Wir sehen einen Mann aus dem Zelt kriechen. »Lockiges Haar, rotes Gesicht«, sagt Mingus, »nicht alt. Gut in Form. Keine Waffe.« Ich will näher ran, aber Mingus hält mich zurück. »Er hebt Werkzeug vom Boden auf. Stangen, Drähte. Er schultert eine Schaufel«, sagt Mingus. »Er geht damit fort.«
    »Im Zelt ist einer«, sagt Gonzo.
    »Los«, sage ich, aber keiner rührt sich. Nur Mingus legt seine Tatze auf meinen Rücken und knurrt leise.
    »Ich kenne den Ort«, sagt er. »Ich kenne das Tal. Ich kenne jeden Felsen. Ich weiß jetzt, wo wir sind. Das ist Papas Tal. Hier standen die Metallhäuser, die Baracke, das Wohnhaus, wo ist das Windrad?«
    Es ist heiß zwischen den Felsen. Wir trinken Wasser. Mingus lehnt wie betäubt an der Steinwand und atmet flach.
    »Was ist mit dir?«, frage ich.
    »Vieles fällt mir ein«, sagt er leise. »Papa ist tot, Nin ist tot, und jetzt bin ich hier, und alles fällt mir ein.«
    »Trink noch einen Schluck«, sage ich, und gehorsam nimmt er die Flasche.
    »Ich gehe jetzt da rein«, sagt er, »in das Zelt. Ihr bleibt hier. Gonzo, pass auf Aglaia auf und auf den Mann mit der Schaufel. Gib Laut, wenn er …«
    »Klar«, sagt Gonzo und drängt mich an den Felsen.
    »Ich komme mit«, sage

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