Minus 0: Märchen-Thriller (German Edition)
der Vorderseite war ein kleines viereckiges Fenster ausgeschnitten, aus dem geselliges Gelächter schallte, das eher auf eine Kneipenstimmung vermuten ließ. Auffallend war auch die Holzrutsche, die an der linken Seite des Baumhauses bis nach unten in die Wiese führte.
Bevor Löckchen wieder entschwinden konnte, hielt ihn Lüc an seinem grauen T-Shirt fest und drückte ihn wieder in Richtung der Leitersprossen.
Was hatte er schon noch zu verlieren? Als kleiner Schwächling mit dunkler Hautfarbe war das Leben in einem traditionellem Dorf wie diesem nicht gerade ein Zuckerschlecken. Er wurde weder gemieden noch gehasst, aber er merkte schnell, dass er im Gegensatz zu anderen seine Qualitäten doppelt so oft unter Beweis stellen musste, um im Gegenzug die gleiche Anerkennung zu erhalten. Die Chance, sich als etwas Besonderes herauszustellen, war nun zum Greifen nah, beziehungsweise nur wenige Leitersprossen von ihm entfernt. Der junge Löckchen krabbelte die Leiter hinauf, in der Hoffnung, dass für ihn nach der Feuertaufe ein neuer Lebensabschnitt begann.
2
Das erste, das Löckchen erblickte nachdem er sich über den Abhang der Holzleiste robbte, war ein hölzernen Tresen in der Ecke, vor dem ein schwarzhaariger Mann auf einem der drei Barhocker saß. Durch seinen Dreitagebart leerte der Mann ein Schnapsglas in einem Zug, ehe er Löckchen einen grimmigen Blick zuwarf. Nicht nur die pechschwarzen Augenringe dieser Gestalt ließen Löckchen erschaudern, denn er wusste über diesen Mann bereits mehr als ihm lieb war. Er kannte seinen Namen, „ Zack “, und trotz seiner schmächtigen, dürren Statur, war er der mit Abstand gefürchtetste Mann in Blutwäldchen. Da ihm ein skrupelloser Ruf vorauseilte, wurde er von den Dorfbewohnern gemieden, aus Angst sie könnten ein Duell mit ihm provozieren und in jedem Fall würde Zack das Duell für sich entscheiden.
Am liebsten wäre Löckchen nach Zacks Anblick ohne Rücksicht auf Verluste aus der Tür des Baumhaues rausgesprungen, aber Lücs warme Hand, die sich umsorgend an seinen Rücken legte, motivierte ihn, es heute wenigstens zu versuchen.
Auch die Tatsache, ein weiteres, ihm bekanntes Gesicht zu sehen, welches ihm nicht das Blut im Körper gefrieren ließ, war ein weiterer Antrieb für ihn. In der anderen Ecke des geräumigen Baumhauses saß auf einem Holzstuhl Frederick , der im Dorf einen beliebten Ruf als Trunkenbold und Weiberheld genoss. Sein Markenzeichen war sein voluminöser und muskulöser Körper von geschätzten zwei Quadratmetern sowie sein schwarzer Schnurrbart unter seiner Boxernase. Frederick war außerdem für seine Modekollektion „SEI STAR C K!“ bekannt, die Premium-Unterhemden für Sportler herstellte. Die Unterhemden waren ausschließlich schwarz oder weiß, wurden zudem aus einem saugfähigen Stoff hergestellt, damit jeglicher Schweißausbruch von dem Unterhemd aufgesaugt wird. Perfekt um einen üblen Schweißgeruch beim Kraftsport zu verhindern und dadurch nicht die Frauen abzuschrecken, die man zuvor mit seinem gestählten Körper anlockte - so Fredericks Ideologie.
Frederick unterhielt sich just in diesem Moment mit dem Boss, dem Chef, dem Herrscher des Dorfes: Dem Kaiserpinguin Willi, der Frederick auf seinem hölzernen Thron gegenüber saß.
Der mächtige Kaiserpinguin hatte ein stolzes Stockmaß von einem Meter fünfzig, fast so groß wie Löckchen selbst. Er kippte sich einen weiteren Schnaps in seine Kehle, welche von außen hin gelblich aufschimmerte. Der lange Schnabel, den er in das Schnapsglas steckte, war oberhalb schwarz gefärbt und unterhalb orange. Sein Rücken schimmerte in einem grauen Dunkelblau, während das Gefieder auf seinem Vorderkörper weiß bis hin zu einem schwachen Gelbton verfiel.
Wenn der Kaiserpinguin sprach, wurde der Raum von einer angenehmen, dunklen Stimme erfüllt. Er sprach wie ein Mann mittleren Alters, der problemlos ganze Hallen mit seiner Redekunst unterhalten könnte. Allerdings waren seine Gesprächsthemen mit Frederick weniger für solch große Hallen bestimmt.
„Du willst mir also erzählen, Delphine sind keine weiblichen Haie?“, fragte Frederick. „Ich dachte all die Zeit, während die Haie auf Jagd gingen, blieben die Delphine zu Hause, kümmern sich um die Familie, spielen hier und da mit ein paar gelähmten Menschenkindern oder ähnliches.“
„Nein, Frederick“, belehrte ihn der Pinguin schmunzelnd. „Du musst verstehen, dass zwischen Delphinen und Haien keine
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