Minus 0.22: Monster In Uns (German Edition)
Stirn des Leutnants, dem letzten regulären Mitglied der V3. Dem guten Leutnant war es nicht möglich, auch nur einen Schuss abzufeuern, so präzise und flink war der Wurf des Kartenspielers.
„SCHEISSE!“, schrie Scar und zückte seinen Revolver. „VERSCHWINDE! HAU AB!“
Der Kartenspieler nahm in jede Hand ein Messer, während Scar ihn mit zittrigen Händen anvisierte. Der erste Schuss donnerte geradewegs auf den Kartenspieler zu, dem er in Erwartung mit Bravour ausweichen konnte - wie den nächsten verzweifelten Schüssen aus Scars Revolver, die allesamt im Wald versiegten. Als die Schüsse des Revolvers aufgebraucht waren, stand der wutentbrannte Kartenspieler auch schon vor Scar.
„GNADE!“, winselte Scar. „Wir wollten nichts Böses. Unsere V3-Zeiten sind vorbei, Kartenspieler! Der Pinguin jagte uns durch die Eiswüste, wir konnten nur noch fliehen! Es war ein verdammter Unfall! Bitte, hab doch Gnade!“
„Der Pinguin?“, fragte der Kartenspieler zornig. „Er hat euch hierher getrieben?“
Scar nickte, woraufhin der Kartenspieler zu schreien begann. Er brüllte sein Unglück durch den verlassenen Wald.
„Beruhig dich doch...“, flehte Scar. „Es war doch ein Unfall! Wir wollten deiner Freundin nichts Böses tun!“
Doch der Zorn des Kartenspielers war nicht mehr aufzuhalten. Brüllend ging er auf Scar los und hämmerte seine Messer in Scars Brustkorb wie ein Holzfäller, der gerade ein Baum fällte. Jeder Messerstich war brutaler, schneller und stärker als der letzte und mit jedem Stich wurde der Hilfeschrei des Kartenspielers lauter und verzweifelter. Die Blutspritzer prasselten auf den Schnee und bedeckten den Mantel des Kartenspielers.
Nach gut fünfzig Messerstichen, ließ der Kartenspieler Scars Leiche in den Schnee fallen. Die Stimme versagte ihm, sodass er keinen Schrei mehr hinaus brachte.
Er ging in dem nassen Schnee auf die Knie. Geschwächt krabbelte er bis zu Selins Leiche. Er traute sich nicht ihre Leiche zu bergen, aus Angst, ihr Kopf könnte sich in der Achse verhangen haben und würde bei der kleinsten Berührung abgetrennt werden.
Hätte sie ihn doch nur sterben lassen, hätte sie doch nur auf ihr Opfer verzichtet, anstatt jemanden wie ihn zu retten. Was auch immer Selin für ihn getan hatte, es war das schönste, wenn auch grausamste Geschenk, dass das Leben für ihn bereit hielt.
Erneut musste er Abschied nehmen auf einen Teil seiner Menschlichkeit - der letzte erbärmlichen Rest, der noch in ihm hauste war mit Selin in diesem Wald gestorben. Die Leere, der Hass war wieder allgegenwärtig.
Er blickte verzweifelt in den grauen Himmel. Er tastete den Schnee nach Selins lebloser Hand ab und umklammerte sie.
So blieb er noch einige Stunden sitzen.
2. Kaiser der Meere
1
Nach einem halben Jahr wurden die Kinder Blutwäldchens endlich von dem grauenvollen, improvisierten Schulunterricht der übrigen Bürger Blutwäldchens erlöst. Vor ihrem Tod wurden die Kinder noch von Frau Hart, einer seriösen Lehrerin, unterrichtet. Allerdings war die Notlösung, Vertretungslehrer aus dem allgemeinen Volk unterrichten zu lassen, keine besonders gute Idee. Sachkunde wurde von Frederick unterrichtet, Kunst von George Power und Mathematik von dem gierigen Matheo. Jedenfalls kamen sich die Kinder von Schultag zu Schultag etwas dümmer vor. Emmas neuer Unterricht war für die Kinder wie ein Geschenk des Himmels, denn erst nach einem halben Jahr konzentrierten Schwachsinns, wussten sie wieder den Wert der Bildung zu schätzen. An Emmas ersten Tag erschienen alle Kinder vollzählig in Frau Harts ehemaligen Haus, das als Blutwäldchens Schule diente.
Während die Erstklässler ihre Mandalas ausmalten, half Emma den Viertklässlern bei komplizierten Rechnungen. Sie beugte sich nach vorne und passte auf, ihren Schüler nicht mit ihrem riesigen Sonnenhut ins Auge zu stoßen.
Plötzlich wurde die stille Konzentration im Raum gestört, als ein ohrenbetäubendes Quietschen das Dorf heimsuchte.
Emma schreckte auf, während Blutwäldchens Kinder das Geräusch routiniert zu ignorieren wussten. „Nanu?“, fragte Emma. „Habt ihr euch nicht auch erschrocken?“
Im gleichen Moment ertönte erneut das schreckliche Quietschgeräusch, das Emma durch Mark und Bein ging.
Boris, eines der Schulkinder, zuckte mit den Schultern. „Wir hören das schon gar nicht mehr.“
„Es klingt wie eine sterbende Ziege.“
Boris nahm Emma an die Hand und führte sie zu dem beschlagenen Fenster,
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