Mio, mein Mio
Nacht klagen.
»Geh jetzt, Prinz Mio«, sagte der Greis. »Ich werde mich hierhersetzen und dir Glück wünschen. Aber vielleicht muß ich schon morgen nacht einen neuen Vogel hören, der klagend über dem See fliegt.«
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Im Toten Wald
Noch während wir Enos Tür hinter uns schlossen, hörte ich Miramis wiehern. Er wieherte laut und verzweifelt.
Es war, als riefe er: »Mio, komm und hilf mir!« Mir blieb vor Angst fast das Herz stehen. »Jum-Jum, was machen sie mit Miramis?« schrie ich. »Hör doch! Was machen sie mit Miramis?« »Still«, sagte Jum-Jum. »Sie haben ihn gefangen … die Späher …«
»Die Späher haben Miramis gefangen?« schrie ich und kümmerte mich überhaupt nicht darum, daß jemand es hören könnte.
»Du mußt leise sein«, flüsterte Jum-Jum. »Sonst fangen sie uns auch.«
Aber ich hörte nicht mehr zu, was er sagte. Miramis, mein eigenes Pferd? Es war mein Pferd, das sie mir fortnehmen wollten, mein schönes, schnelles Pferd.
Wieder hörte ich ihn wiehern, und mir schien, es war genauso, als ob er rief: »Mio, warum hilfst du mir nicht?«
»Komm«, sagte Jum-Jum, »wir müssen sehen, was sie mit ihm machen.«
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Wir kletterten in der Finsternis über die Felsen. Wir krochen und kletterten. Ich zerschnitt mir an den scharfen Felskanten die Finger, doch ich fühlte es nicht. Ich war verzweifelt wegen Miramis. Er stand hoch oben auf einem Felsen und leuchtete weiß durch die Finsternis.
Mein Miramis. Das weißeste und schönste Pferd auf der Welt.
Er wieherte wild und bäumte sich auf, um sich zu befreien. Aber fünf schwarze Späher hatten ihn umringt.
Zwei von ihnen hatten sich in sein Zaumzeug gehängt.
Der arme Miramis hatte Angst, und das war nicht verwunderlich, denn diese schwarzen Späher waren unheimlich, und sie sprachen mit unheimlichen, heiseren Stimmen. Jum-Jum und ich krochen so nahe heran, wie wir konnten. Wir legten uns hinter einen Felsen und konnten die Späher sprechen hören. »Am besten, wir bringen ihn im schwarzen Boot gleich über den Toten See«, sagte einer von ihnen. »Ja, gleich über den Toten See«, sagte ein anderer, »hinüber zu Ritter Kato.«
Ich wollte sie anschreien, sie sollten mein Pferd zufriedenlassen. Aber ich tat es nicht. Denn wer sollte gegen Ritter Kato kämpfen, wenn mich die Späher 96
einfingen?
»Jemand muß die Grenze überschritten haben«, sagte einer der Späher. »Jemand muß das weiße Pferd geritten haben. Der Feind ist mitten unter uns.« »Nur gut, wenn der Feind mitten unter uns ist«, sagte ein anderer. »Um so leichter können wir ihn fangen.
Und um so leichter kann Ritter Kato ihn zertreten und vernichten.«
Ich zitterte, als ich das hörte. Ich war ja der Feind, der über die Grenze gekommen war. Ich war der, den Ritter Kato zertreten und vernichten sollte. Oh, warum mußte gerade ich gegen Ritter Kato kämpfen? Während ich dort hinter dem Felsen lag, bereute ich alles. Warum war ich nicht zu Hause geblieben bei meinem Vater, dem König, wo mir niemand mein Pferd wegnehmen konnte! Ich hörte die verzauberten Vögel über dem See schreien, aber ich beachtete die Schreie nicht. Ich kümmerte mich überhaupt nicht mehr um sie. Sollten sie doch verzaubert bleiben, wenn ich nur meinen Miramis mit der
Goldmähne behalten durfte! Ich bereute,
hierhergekommen zu sein. Ich sehnte mich sehr nach meinem Vater, dem König, und dachte, ob er sich wohl 97
auch nach mir sehnte und meinetwegen in Sorge wäre.
Ich wünschte, er wäre dagewesen und hätte mir helfen können.
Ich wünschte, ich hätte ein Weilchen mit ihm sprechen dürfen. Ich hätte dann zu ihm gesagt: »Ich weiß, du willst, daß ich gegen Ritter Kato kämpfe. Bewahre mich davor – bitte, bewahre mich! Hilf mir, Miramis zurückzubekommen, und laß uns von hier fortgehen. Ich habe noch nie vorher ein eigenes Pferd gehabt, das weißt du, und ich liebe Miramis sehr. Einen Vater habe ich auch nie gehabt, das weißt du auch. Und wenn mich Ritter Kato fängt, dann kann ich nie mehr bei dir sein.
Hilf mir von hier fort! Ich will hier nicht länger bleiben.
Ich will bei dir sein. Ich will mit Miramis wieder zur Insel der grünen Wiesen zurück.«
Und wie ich dort hinter dem Felsen lag und so dachte, da war es, als hörte ich die Stimme meines Vaters, des Königs. Gewiß, ich bildete es mir nur ein, doch mir war, als hörte ich seine Stimme. »Mio, mein Mio«, sagte er.
Mehr nicht. Aber ich verstand, er wünschte, ich sollte tapfer sein und nicht so
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