Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
würde, jemand anderem den Spruch anzuvertrauen. Dass du ein ganz gewöhnliches Menschenkind warst, machte die Sache natürlich nicht einfacher.«
»Dann hat er also auch vorausgesehen, dass die schwarze Hexe mich verwünschen würde?«, flüsterte Mira. Sie starrte auf ihre Schuhe, und ihr war, als würde sich unter ihr ein dunkler Abgrund auftun.
Das Silbermännchen sah sie ernst an. »Oh nein! Wie sollte er ahnen, dass die schwarze Hexe diesen Fluch gegen dich ausstoßen würde? Das, was geschehen ist, lag auf der verborgenen Seite der Zeitsichtkugel. Es war das, was man nicht sehen konnte!«
»Ich kenne diese Kugel«, sagte Mira leise.
Sie schwieg und das Silbermännchen nahm einen bedächtigen Zug aus seiner Pfeife.
»Es war also ziemlich knapp«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte das Silbermännchen. »Es hätte alles auch ganz anders ausgehen können.«
Mira sah, wie der Bogen des glutroten Sonnenballs sich über das Dach des Hauses schob. Die Sonne färbte das kreisrunde Dach golden und die gezackte Kugel blitzte darauf. »Aber wo sind die Drachen jetzt? Sind sie weg?«
Das Silbermännchen lächelte. »Sie sind nur – woanders.«
»Aber man kann sie nicht mehr beschwören?«
Das Silbermännchen schüttelte den Kopf. »Nein, die Drachen kann man nicht mehr rufen. Aber vielleicht kann man das, was sie nun zusammen sind, einmal beschwören!« Es zuckte mit den Achseln. »Sofern man den Spruch dazu findet.«
»Ich werde sie vermissen«, sagte Mira und lachte. »Es klingt komisch, aber ich werde sogar die schwarze Hexe vermissen.«
Das Silbermännchen sah lange einem Rauchkringel nach.
»Und du? Du und Netaxa, ich meine, ihr ...?«, begann Mira und spürte, wie sie rot wurde. Sie traute sich kaum, die Frage zu Ende zu stellen.
Zu ihrer Überraschung leuchtete nun auch plötzlich das Silbermännchen heftig. Es starrte auf seine glänzenden Steppschuhe. »Du kennst sie nicht. Sie ist ... nun ... ziemlich ...«
»Temperamentvoll?«, half Mira aus.
Das Silbermännchen putzte mit einem gepunkteten Taschentuch umständlich den Kopf seiner Pfeife, bevor es weiterrauchte. »Nicht nur das! Sie vergisst auch nie etwas! Leider!«
Mira beschloss nach einem Blick auf seinen verlegenen Gesichtsausdruck, nicht weiterzufragen. Das Silbermännchen zog hastig an seiner Pfeife und hustete. »Es genügt, wenn wir uns alle paar Jahrhunderte einmal sehen. Na ja, oder vielleicht zwei-, dreimal ...« Es steckte mit der freien Hand sein Taschentuch wieder ein und betrachtete die Sonne, die sich langsam vom Horizont löste. Sie leuchtete nun gelb und färbte zart die Wolken.
Nie ist die Sonne so schön wie im Winter , dachte Mira. Man braucht sie dann am nötigsten. Dann sah sie das Silbermännchen an, das nun durch die Sonnenstrahlen ein ganz goldenes Leuchten bekam. »Ich muss dir noch etwas Wichtiges sagen!« Sie räusperte sich. »Ich möchte, dass du ein freies Geistwesen bist. Du sollst niemandem mehr gehorchen müssen, auch nicht mir!«
Das Silbermännchen schwieg und sah sie erstaunt an.
»Also gebe ich dich frei«, erklärte Mira.
Das Silbermännchen blickte nun sehr nachdenklich drein.
»Tatsächlich«, sagte es leise. »Frei! Das klingt gut!«
»Ja, nicht wahr?«, erwiderte Mira, obwohl ihr gar nicht so zumute war. »Du bist frei und ich werde nach Hause gehen.«
»Das würde ich dir auch raten! In zwei Tagen ist schließlich Weihnachten!«, brummte das Silbermännchen.
Mira sah ihn überrascht an. Weihnachten! Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Weihnachten vergessen! Sie starrte auf die glitzernden Schneekristalle zu ihren Füßen. »Und was soll ich zu Hause mit der Karte machen? Wohin soll ich sie geben, wenn du mir nun nicht mehr gehörst?«
Das Geistwesen nahm einen langen Zug aus der Pfeife. Es sah alles andere als froh aus. »Du könntest sie vielleicht an einem geheimen Platz verstecken!«, schlug es ohne Begeisterung vor.
»Ja«, stimmte Mira ihm zu. »Das wäre sicher vernünftig.«
Das Silbermännchen schob die Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen.
»Ich ... ich wäre eigentlich sehr glücklich, wenn du die Karte behältst«, sagte es schließlich leise.
»Ehrlich?«
»Wem soll ich denn sonst meine Geschichten erzählen?«
Mira war so froh, dass sie das Geistwesen am liebsten umarmt hätte. Aber das war natürlich nicht möglich, denn sie hätte ja nur Luft zwischen den Fingern gehabt.
»Es ist mir eine Ehre, die Karte zu behalten!«, sagte sie stattdessen. »Und ich hoffe, dir
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