Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
hatte Mira eine ganze Nacht nicht geschlafen, doch sie fühlte sich merkwürdigerweise gar nicht müde. Sie war wach, wacher, als sie es je zuvor gewesen war, und nahm jede Einzelheit dieses heranbrechenden Morgens schärfer als gewöhnlich wahr.
Neben ihr saß das Silbermännchen. Es trug noch immer den glitzernden Anzug, in dem es vor ein paar Stunden mit Netaxagetanzt hatte. Jetzt leuchtete das Licht der Morgendämmerung durch seine Gestalt.
Die beiden schwiegen wie zwei alte Freunde und hingen ihren Gedanken nach.
Nach einer Weile zog das Silbermännchen einen durchsichtigen Tabakbeutel und eine silberne Pfeife aus der Innentasche seines Jacketts. »Jetzt hast du das Ende der Geschichte von Arachonda und Cyril selbst erlebt. Ich konnte es dir damals nicht mehr erzählen, erinnerst du dich?«
Oh ja, Mira erinnerte sich. Sie hatte immer noch den dunklen Gang vor Augen, als ihre Verfolger kamen und sie im Wasser verzweifelt nach der entschwundenen Karte des Silbermännchens fischte. »Ich weiß noch, dass Arachonda zu Cyril kam, als er sehr alt war.«
Das Silbermännchen nickte. »Sie selbst allerdings sah keinen Tag älter aus, denn sie hatte das Rätsel der Unsterblichkeit gelöst. Auf eine dunkle Art gelöst, die wir alle nicht kennen.«
Mira sah das Silbermännchen fragend an.
»Glaub mir, es ist besser, nichts darüber zu wissen!« Das Silbermännchen schnürte den Beutel auf, entnahm ihm blau schimmernden Tabak und begann sich seine kleine Pfeife zu stopfen.
»An jenem schicksalhaften Tag also besuchte die schwarze Hexe Cyril in seinem Zimmer hoch im Turm. Sie wollte ihn davon überzeugen, auf die gleiche Weise unsterblich zu werden wie sie. Doch Cyril wies ihr Ansinnen ab. Er wollte mit schwarzer Magie nichts zu tun haben. Und er tat gut daran.«
Das Geistwesen hielt für einen Moment inne.
»Es sollte Arachondas letzter Versuch sein, Cyril für sich zu gewinnen. Danach stürzte sie in tiefe Verzweiflung und verwandelte sich immer mehr in die Frau, die du kennengelernt hast.«
Das Silbermännchen seufzte tief.
»Cyril jedoch beobachtete mit wachsender Sorge die Spaltung der Zauberwelt. Er wusste, dass, solange Arachonda am Leben war, es nie Versöhnung zwischen den beiden Zaubergemeinden geben würde. Und es war ihm klar, dass, wenn er sterben würde, die weißen Zauberer rettungslos verloren waren. Außerdem – und das mag dir seltsam erscheinen – liebte er Arachonda noch immer. Also tat er etwas, von dem er sich eigentlich geschworen hatte, die Finger davonzulassen. Er blickte in die Zeitsichtkugel.«
»Ich weiß«, sagte Mira. »Er sah Thaddäus darin, wie er das Buch finden wird.«
»Nicht nur das. Er konnte in der Kugel auch noch etwas anderes erblicken, das viel wichtiger war.«
Das Silbermännchen machte eine bedeutungsvolle Pause, in der Mira es gespannt ansah.
»Er sah, was gestern Abend passierte. Die Kugel zeigte ihm die beiden Drachen, und so wusste er, dass er und Arachonda gemeinsam als Geistwesen den Saal verlassen würden.«
»Du meinst, Cyril hat alles schon in der Kugel vorausgesehen?«
»Nur diesen kleinen Ausschnitt. Aber der hat ihm genügt, um die Idee in ihm reifen zu lassen, selbst ein Geistwesen zu werden!« Das Silbermännchen holte ein blitzendes Feuerzeug aus seiner Westentasche, um damit seine Pfeife anzuzünden. Es nahm drei kurze Züge und stieß dann eine lange Rauchwolke aus, die sich zu Miras Erstaunen im Licht der aufgehenden Sonne rosa färbte.
»Und so zeichnete er das Buch und in dessen Mitte die beiden Drachen. Er legte alle Geheimnisse, die er kannte, in die Zeichnungen und hoffte, dass sich die schwarze Hexe deshalb für das Buch interessieren würde. Sein Plan ging auf. Das Buch der Metamorphosen war bald berühmt und viele Legenden rankten sich darum. Arachonda suchte fieberhaft danach. Sie dachte aber, dass es in dem Buch um die Geheimnisse der Macht ginge, die in den Zeichnungen versteckt waren.« Das Silbermännchen lachte leise. »Diese Geheimnisse waren allerdings nur der Köder. In Wirklichkeit ging es bei dem Buch immer nur um den schwarzen Drachen.« Es starrte gedankenverloren ein paar Rauchkringeln hinterher, die es in die Luft gesandt hatte.
»Aber warum hat Cyril dann ausgerechnet mir den Spruch verraten?«, fragte Mira.
»Er brauchte ja schließlich jemanden, der den Spruch zur Erweckung des schwarzen Drachen kannte. Andernfalls wäre er gestern verloren gewesen. Und er konnte nicht wissen, ob er noch einmal die Gelegenheit haben
Weitere Kostenlose Bücher